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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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er sie bis jetzt nicht richtig gekannt. Er sieht die beiden lachen, als die glänzenden schwarzen Augen des Schafs weiß werden, dann perlmuttgrau. Verräterisch grau.
     
    Sutton geht die Hudson Street auf und ab. Er atmet tief durch die Nase ein. Nasses Fell, Innereien, Blut. Riecht ihr das, Jungs? Als Kinder hat uns der Gestank nie gestört.
    Ich riech nichts, sagt Knipser zu Schreiber.
    Sutton zeigt auf seine Füße. Daddo sagte immer, Eddie hätte den Teufel in sich – und genau an dieser Stelle fand ich heraus, was das hieß. Eddies erster Mord.
    Das ist schon besser, sagt Knipser, schiebt Schreiber beiseite und fotografiert Sutton, wie er auf den Boden zeigt.
    Schreiber stellt seine Aktentasche ab, klickt sie auf, holt einen Stapel Mappen heraus.
    Was ist das?, fragt Sutton.
    Dossiers der Zeitung über Willie Sutton. Jedenfalls einige davon. Es gibt eine ganze Schublade voll mit Ihnen, Mr Sutton. Sie haben Ihren Großvater erwähnt. Ich hab ihn in einer Mappe gesehen. War er der Schauspieler?
    Nein. Der Schauspieler war der Vater meines Vaters. Damals in Irland. Angeblich kannte er fast alles von Shakespeare auswendig. Ich rede vom Vater meiner Mutter.
    Knipser fotografiert weiter. Aber wer wurde hier umgebracht, Mann?
    Ein Schaf, sagt Sutton.
    Knipser hält inne, senkt die Kamera. Ein was?
    Hier war ein Schlachthaus. Ich ging immer mit meinen besten Freunden Eddie und Happy hin. Eines Abends haben sie ein Schaf gekillt. Oder eine Ziege, die so tat, als wäre sie ein Schaf.
    Warum?
    Es hat die anderen Schafe verraten.
    Knipser stützt seine Kamera auf die Hüfte. Das Schaf hat die anderen verraten, sagt er zu Schreiber. Hast du das gehört?
    Mr Sutton, Sie haben Eddie erwähnt. Meinen Sie Edward Buster Wilson? Mit dem Sie 1923 verhaftet wurden?
    Ja.
    In einem Zeitungsausschnitt sagte der Richter, dass Sie wie Geächtete im Wilden Westen waren.
    Nein, das hat der Richter über mich und einen anderen Typen gesagt. Aber auf Eddie und mich traf das sicher auch zu.
    Schreiber schlägt eine Mappe auf. Okay. Da ist es – Sutton und Wilson. Widerrechtliches Betreten eines Grundstücks, bewaffneter Raubüberfall.
    Klingt nicht verkehrt, sagt Sutton.
    Und Happy, also, Mr Sutton, ist das William Happy Johnston? Mit dem Sie 1919 verhaftet wurden?
    Genau der.
    Einbruch. Vorsätzliche Gefährdung.
    Der gute alte Happy.
    Entführung. Moment – Entführung?
    Ihr hättet dabei sein sollen, sagt Sutton. Ihr hättet Happy kennen sollen. Nicht dass jemand einen anderen verdammt nochmal kennt. 
    Wen haben Sie und Happy entführt?
    Immer schön der Reihe nach, Kleiner.

Fünf
    Willie lauscht im Flur, während Mutter und Vater den ganzen Abend dasitzen, zwischen sich eine Gaslampe, und die Familienfinanzen besprechen. Mutter fragt: Was sollen wir nur tun? Vater sagt nichts. Aber er sagt ja nie etwas.
    Erst waren es die neumodischen Fahrräder, jetzt sind es die verfluchten Autos. Noch vor kurzem hielten die Leute das Automobil für eine bloße Marotte. Jetzt sind sich alle einig, es ist von Dauer. Die Zeitungen sind voll mit Anzeigen für die neuesten, funkelndsten Modelle. In der gesamten Stadt werden neue Straßen gebaut. Die Feuerwehr ist bereits auf pferdelose Löschwagen umgestiegen. All das bedeutet schwere Zeiten für Hufschmiede.
    Sommer 1914 . Trotz der Sorgen zu Hause und trotz des Herumlungerns mit Eddie und Happy schließt Willie die Grundschule als Bester ab. Ein Besuch der Highschool jedoch kommt nicht in Frage. Am Tag nach der Zeugnisübergabe erhält er seine Arbeitspapiere. Der Traum seiner Mutter von ihrem Sohn in Priesterrobe wird auf Eis gelegt. Nach seinen eigenen Träumen wird nicht gefragt. Er muss sich Arbeit suchen und der Familie helfen, über die Runden zu kommen.
    Doch nicht nur für Hufschmiede sind die Zeiten hart. Amerika steckt in einer Depression, der zweiten in Willies jungem Leben. Willie bewirbt sich in den Fabriken am Fluss, in Büros in Downtown, in Kurzwarenhandlungen und Kleiderläden und Imbissstuben. Er ist klug, vorzeigbar, viele Leute kennen und bewundern seinen Vater. Aber Willie hat keine Erfahrung, keine Ausbildung, und für jeden verfügbaren Job konkurriert er mit Hunderten von Mitbewerbern. In der Zeitung liest er, dass sich Scharen von Arbeitslosen durch Manhattan wälzen und Arbeit fordern. In anderen Städten ebenfalls. In Chicago sind die Menschen so aufgebracht, dass die Polizei auf sie schießt.
    Daddo bittet Willie, ihm die Zeitung vorzulesen. Streiks, Tumulte,

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