Knapp am Herz vorbei
Unruhen – nach einer halben Stunde will Daddo, dass Willie aufhört. Er murmelt in die Kartoffelsackvorhänge:
Die Scheißwelt geht unter.
Um Geld zu sparen, ziehen die Suttons aus Irish Town weg in eine kleinere Wohnung am Prospect Park. Für den Umzug bedarf es nur einer Fahrt mit dem Pferdewagen, so wenig besitzen sie. Dann entlässt Vater seinen Lehrling. Trotz des mageren Geschäfts, seines arthritischen Rückens und der schmerzenden Schultern arbeitet er jetzt noch länger, wodurch sich Rücken und Schultern nur noch verschlimmern. Mutter beratschlagt mit Daddo, was wohl wird, wenn Vater morgens nicht mehr aus dem Bett kommt. Dann sitzen sie auf der Straße.
Vater möchte, dass Willie mit in die Schmiede geht. Doch dort arbeitet jetzt auch Größer, der aus der Armee entlassen wurde. Ich glaube nicht, dass ich fürs Schmiedehandwerk geschaffen bin, sagt Willie. Vater sieht ihn durchdringend an, nicht, als würde er sich verraten fühlen, sondern fassungslos. Als wäre Willie ein Fremder. Ich kenne das Gefühl, würde Willie gern sagen.
Eines Tages – nach Vorstellungsgesprächen und Bewerbungen, die nie gelesen werden – rennt Willie zurück in sein altes Viertel. Eddie und Happy suchen ebenfalls vergeblich nach Arbeit. Im East River finden die Jungen Erleichterung von der steigenden Sommerhitze und ihrer schwindenden Zukunft. Um richtig schwimmen zu können, müssen sie Fahrradschläuche, Salatköpfe, Orangenschalen und Matratzen beiseiteschieben. Außerdem müssen sie Müllbooten, Schleppkähnen, Schuten und Leichen ausweichen – der Fluss fordert jede Woche ein neues Opfer. Aber die Jungen stört das nicht. Egal, wie schlickig, fischig und tödlich, der Fluss ist heilig. Der einzige Ort, an dem sie sich willkommen fühlen. In ihrem Element.
Manchmal riskieren sie es, bis zum schlammigen Grund zu tauchen. Mehr als einmal wären sie dabei fast ertrunken. Es ist ein dämliches Spiel, wie Perlentauchen ohne Aussicht auf eine Perle, aber keiner will zugeben, dass er Angst hat. Dann setzt Eddie noch einen drauf und schlägt ein Wettschwimmen ans andere Ufer vor. Wie Vögel hocken sie auf den schiefen Holzpfählen eines verlassenen Piers und schauen durch den Sommerdunst zum Horizont.
Was ist, wenn wir einen Krampf kriegen?, fragt Happy.
Was ist dann?, sagt Eddie höhnisch.
Dann retten uns die Meerjungfrauen, murmelt Willie.
Meerjungfrauen?, sagt Happy.
Mein Daddo behauptet, in jedem Gewässer gibt es eine oder zwei Meerjungfrauen.
Unsere einzige Hoffnung, eine abzubekommen, sagt Eddie.
Das gilt nur für dich, erwidert Happy.
Willie zuckt die Schultern. Was haben wir schon zu verlieren?
Unser Leben, murmelt Happy.
Wie gesagt.
Sie springen. Im Schatten der Brooklyn Bridge erreichen sie nach sechsundzwanzig Minuten Manhattan. Eddie ist Erster, gefolgt von Happy, dann Willie. Willie wäre Erster geworden, wurde aber nach der Hälfte langsamer, weil er mit dem Gedanken spielte, aufzugeben und sich für immer auf den Grund sinken zu lassen. Tropfend, keuchend und lachend stehen sie am Anleger und sind stolz auf ihre Leistung.
Jetzt stellt sich das Problem, wie sie zurückkommen. Eddie möchte schwimmen. Willie und Happy verdrehen die Augen. Wir gehen zu Fuß, Ed.
Willie ist zum ersten Mal auf der Brooklyn Bridge. Die Kabel, die gotischen Backsteinbögen – wunderschön. Daddo sagt, beim Bau der Brücke sind Männer gestorben. Die Bögen sind ihre Grabsteine. Willie findet, sie sind für eine gute Sache gestorben. Daddo sagt auch, nach der Eröffnung der Brücke hatten die Leute zunächst Angst gehabt. Sie war zu groß, niemand glaubte, dass sie halten würde. Zum Test wurde der Zirkus Barnum mit einer Elefantenherde über die Brücke geschickt. Auch Willie hat ein bisschen Angst. Nicht wegen der Größe, sondern wegen der Höhe. Er mag keine Höhen. Er hat keine Angst vor dem Fallen, aber ihm wird übel, wenn er die Welt von oben sieht. Besonders Manhattan. Schon von der anderen Uferseite aus wirkt die große Stadt beängstigend. Aber von hier oben ist Manhattan einfach zu viel. Magisch, begehrenswert, sagenhaft schön, wie die Frauen in
Photoplay
. Er will es. Er hasst es. Würde es liebend gern erobern, an sich reißen, ganz für sich behalten. Oder bis auf den Grund abbrennen.
Die Vogelperspektive auf Irish Town ist ebenfalls bedrückend. Vom höchsten Punkt der Brücke aus sieht das Viertel noch elender und schäbiger aus. Willie lässt den Blick über die Kamine, die Simse, die
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