Knapp am Herz vorbei
Rolle, ob der Richter Bess glaubt oder nicht. Der Richter spielt selbst keine Rolle. Mr Endner und seine Kumpane haben ihm schon gesagt, was zu tun ist – bei Zehn-Dollar-Zigarren in seiner Kanzlei. Nach einer nutzlosen Aussage des Sheriffs von Poughkeepsie, einigem Herumeiern wegen der Beweise – der Eichhörnchenmantel, die Rechnungen – befindet der Richter Willie und Happy für schuldig und verurteilt sie zu drei Jahren auf Bewährung. Außerdem müssen sie sich von Bess fernhalten.
Ein paar Tage vor Weihnachten 1919 wird William F. Sutton aus dem Raymond Street Jail entlassen. Er steht auf der oberen Stufe des Gefängnisses und blickt auf die Stadt. Endlich frei – na und? Die Depression erwartet ihn. Sonst nichts. Selbst unter den günstigsten Umständen würde er keine Arbeit finden. Mit einer Vorstrafe kann er es vergessen. Außerdem hat er Bess verloren. Er könnte ebenso gut auf dem Absatz umkehren und fragen, ob er in der Raymond Street bleiben darf.
Die Wirklichkeit ist noch schlimmer als erwartet. Er vermisst Bess so sehr, dass er kaum noch zu etwas in der Lage ist. Am liebsten würde er sterben. Er plant seinen Tod. Er schreibt Abschiedsbriefe an seine Familie, an Bess. Auf dem Weg zum Fluss sagt er sich in letzter Minute: Wenn ich nur mit ihr sprechen könnte, und sei es für eine Minute. Er geht zum Haus in der President Street. Zum Teufel mit der Bewährung. Er steht auf dem Bürgersteig. Das Buntglas, die schönen Balustraden, der Eisenzaun mit den Spitzen. Er betet, sie möge an einem Fenster vorbeigehen.
Doch das Haus bleibt dunkel.
Mr Sutton? Weinen Sie etwa?
Nein.
Der Polara parkt vor dem Kings County Criminal Justice Center. Dem früheren Raymond Street Jail.
Schreiber dreht sich um. Mr Sutton, Sie weinen ja doch.
Sutton legt die Hand auf die Wange. Mir war nicht klar, dass ich weine, Sir.
Sir?
Kleiner.
Sutton sucht nach einem Papiertaschentuch. Er öffnet die Kameratasche. Teure Objektive. Er öffnet den Stoffbeutel. Brieftasche. Tüte voller Joints.
Heere aus der Nacht
. Malcolm X . Auf Seite 155 hat Knipser eine Ecke umgeschlagen und einen Satz unterstrichen.
Wer behauptet, ein Herz für seine Mitmenschen zu haben, sollte es sich gut überlegen, ehe er sie hinter Gittern einsperren lässt.
Er sucht auf Coney Island und findet Bess’ Freundinnen. Von ihnen erfährt er, dass Mr Endner Bess außer Landes gebracht hat, bis der Skandal sich legt.
Letzte Woche ist sie mit dem Schiff nach Hamburg gefahren, sagt Freundin eins.
Sie wird bei Mr Endners Familie wohnen, ergänzt Freundin zwei. Sag mal, wie geht es Happy?
Willies Eltern bieten ihm keinen Trost, keine Schonung, keine Gnade. Wenn sie in seiner Anwesenheit überhaupt reden, dann nicht mit ihm, sondern über ihn. In ihren Augen hat er Schande über sie gebracht, sie enttäuscht. Sie werfen ihn zwar nicht raus, wollen aber auch nichts von ihm wissen.
Daddo würde ihn verstehen, aber Daddo ist in einem schlechten Zustand. Die Hälfte der Zeit wähnt er sich in Irland bei den Hexen und Meerjungfrauen. Die kleinen Männchen – sie haben Daddos Verstand geraubt.
Zum Glück gibt es Eddie. Er arbeitet immer noch auf der Werft und wird dort so geschätzt, dass er Willie und Happy Jobs besorgen kann. Ein großes Glück, aber auch seltsam. Die Arbeit in der Werft erinnert Willie an Endner and Sons, und das erinnert ihn an Bess, und dann würde er am liebsten heulen. Aber zumindest hat er Arbeit. Das ist das Wichtigste, redet er sich ein. Das ist alles, was er immer wollte.
Als das neue Jahrzehnt beginnt, steht er auf einer überdachten Plattform, baumelt an der Seite eines Frachtschiffs und schwenkt eine blaurote, fünftausend Grad heiße Flamme. Er schneidet den Frachter in Stücke und die Stücke in noch kleinere Stücke. Die Arbeit ist gefährlich, strapaziös, anstrengend und dennoch ein Segen. Am Ende eines jeden Tages will er nur noch schlafen. In seinem derzeitigen Gemütszustand findet er es wohltuend, etwas zu verbrennen und zu zerstören.
Meistens trifft er morgens vor der Arbeit Eddie und Happy in einem Diner nahe der Werft. Sie klopfen ihm auf den Rücken und sagen, er sei wieder ganz der Alte. Er weiß es besser. Er weiß, dass etwas in ihm zerbrochen ist, mehr als nur sein Herz, und wie bei einem verschrotteten Frachter ist es nicht zu reparieren.
Er verdient genug für ein möbliertes Zimmer. Seine Eltern tun gar nicht erst so, als bedauerten sie seinen Auszug. Mutter wünscht ihm viel
Weitere Kostenlose Bücher