Knapp am Herz vorbei
Gurgel gehen will.
Willie und Happy treten nicht in den Zeugenstand. Im Gegensatz zu ihrer Mitangeklagten. Für ihre Kooperation haben ihre Anwälte einen Deal ausgehandelt. Bess betritt den gedämpften Gerichtssaal und geht zum Zeugenstand. Sie trägt ein graues Kleid mit blauem Kragen und blauen Manschetten, schwarze Lackschuhe mit weißen Laschen, und sie umklammert eine blaue flache Handtasche – genauso verkrampft wie das Lenkrad des Nash. Ihre zu kleinen Löckchen gedrehten Haare berühren die Schultern, als sie ihre behandschuhte Hand lammfromm auf die Bibel legt.
Willie hat sie seit dem Morgen der Verhaftung nicht mehr gesehen. Ja, Sir – das waren ihre letzten Worte, als der Sheriff von Poughkeepsie zu ihr sagte: Ziehen Sie sich etwas an, junge Dame. Nicht ein Besuch, weder ein Brief noch eine Karte. Willie würde gern über den Tisch springen, zu ihr rennen, sie ausschimpfen. Er würde sie gern umarmen und küssen. Er würde gern schreien: Du hast mein Leben ruiniert! Er würde gern flüstern: Du bist mein Leben. Er gibt ihr die Schuld für seine missliche Lage. Er bedauert, sie nicht geheiratet zu haben, als er die Gelegenheit dazu hatte.
Schwören Sie, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, so wahr Ihnen Gott helfe?
Ja.
Willie stellt sich vor, wie sie in einem anderen Gerichtsgebäude, bei einer anderen Gelegenheit
Ja
sagen würde. Wenn sie doch nur … Er senkt den Kopf.
Mit stockender Stimme erzählt Bess ihre Geschichte – sanft, aber bestimmt geleitet vom Bezirksstaatsanwalt. Die Leute im Gerichtssaal sind verzückt, auch wenn es nicht die Geschichte ist, die sie hören wollten. So wie Bess sie erzählt, ist es keine schlüpfrige Geschichte, sondern die keusche Geschichte einer ersten Liebe. Die ursprüngliche menschliche Geschichte, die einzige Geschichte. Mit einer kapitalistischen Wendung. Reiches Mädchen, armer Junge. Sie möchten heiraten, aber ihr Vater steht im Weg. Darum riskieren sie alles, um zusammen zu sein. Aber sie tun nichts Anstößiges, Euer Ehren. Dieser Junge ist ein perfekter Gentleman. Außerdem war alles die Idee des Mädchens.
Sie
bricht den Safe auf.
Sie
trägt das gestohlene Geld die ganze Zeit bei sich. Der Junge ist immer nur gefahren.
Und der Freund des Jungen?, fragt der Bezirksstaatsanwalt. Warum war er dabei?
Wir dachten, wir brauchen einen Zeugen, Euer Ehren. Wir dachten, das verlangt das Gesetz.
Sie schwört, wenn sie zurückgehen und alles ungeschehen machen könnte, würde sie es tun. Die Liebe hat ihren Verstand getrübt. Die Liebe hat sie krank gemacht. Die Liebe hat sie zu etwas verführt, von dem sie gar nicht wusste, dass sie dazu fähig ist.
Sie legt eine Pause ein und bittet um ein Glas Wasser. Willie weiß, dass sie nicht wirklich durstig ist. Sie tut es nur, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, um Mitgefühl zu wecken. Aber wer Bess nicht kennt, könnte meinen, sie stirbt jeden Moment vor Flüssigkeitsmangel. Willie fragt sich, ob irgendetwas an dieser Geschichte, an ihr, echt ist. Vielleicht ist Bess eine echte Verbrecherin, vielleicht ist Liebe ein Verbrechen. Wenn Liebende sagen: Du hast mein Herz gestohlen, sind das vielleicht nicht nur schöne Worte. Denn so sicher, wie sie das Geld ihres Vaters gestohlen haben, hat Bess Willies Herz gestohlen. Und sie zeigt keine Reue. Jedenfalls nicht so, wie Willie es sich wünscht.
Der Richter späht über seine Brille hinweg zum Tisch der Verteidigung. Anwalt streicht über die weißen Haare auf seiner Nase, legt sich eine Leberpille auf die Zunge. Keine Fragen, Euer Ehren.
Sie dürfen aus dem Zeugenstand treten, junge Dame.
Bess steht auf. Sie schaut ihren Vater an. Dann Willie. Zum ersten Mal an diesem Morgen schaut sie in seine Richtung, zum ersten Mal seit Monaten treffen sich ihre Blicke. Er versucht, ihre Miene zu deuten. Unmöglich. Dann schwebt sie den Gang entlang aus dem Gerichtssaal und direkt auf die Titelseiten. In Brooklyn, in San Francisco, in London – überall wird man bald die rührend unschuldige Geschichte des kleinen Backfischs lesen, die von erster Liebe und leichtsinnigem Verbrechen handelt. Sie wird sich die Titelseiten mit den Bankiers und ihren Vertretern teilen, die über die Kriegsbeute feilschen. Aufgrund ihrer bewegenden Zeugenaussage allerdings werden Willie und Happy in den Zeitungen kaum erwähnt. Die Journalisten werden Bess’ Geschichte von zwei unglückselig Liebenden in den ersten Auftritt eines Stars verkehren.
Es spielt keine
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