Knapp am Herz vorbei
wird dem Speisesaal zugewiesen, wo er an zusätzliches Futter rankommen kann. Und Willie soll Charles Chapin helfen, dem berühmtesten Insassen von Sing Sing. Chapin ist möglicherweise noch berühmter als Lawes.
Vor nicht langer Zeit war Chapin Amerikas bester Zeitungsmann. Als Herausgeber der Pulitzer-eigenen
Evening World
erwarb er sich einen Ruf als herzloser und mäßig skrupulöser Mensch. Er weidete sich an menschlichem Leid, schlug aus den Opfern aufsehenerregender Verbrechen und Tragödien schadenfroh Kapital und schaltete die Konkurrenz bei allen großen Geschichten aus. Irgendwie war es ihm sogar gelungen, einen Mann an Bord der
Carpathia
zu schmuggeln, dem Schiff, das im Nordatlantik Überlebende der
Titanic
rettete. Auf der Rückfahrt der
Carpathia
nach New York führte Chapins Mann die ersten Interviews mit den Überlebenden. Als der nervöse Kapitän der
Carpathia
Chapins Mann verbot, die Aufzeichnungen an Land zu telegraphieren, heuerte Chapin einen Schlepper an und empfing die
Carpathia
beim Einlaufen im New Yorker Hafen. Chapin manövrierte den Schlepper neben die
Carpathia
, rief seinem Mann zu, die Aufzeichnungen runterzuwerfen, und fing sie dann auf. Noch ehe die Überlebenden von Bord und richtig trocken waren, brachte Chapin eine Extraausgabe unter die Leute.
Chapin besaß genug Grips, Mut und Schwung, um der nächste Mencken zu werden. Doch 1918 fand seine Karriere ein jähes Ende. Zu der Zeit, als Willie Bess den Hof machte, brachte Chapin seine Frau um. Ein Kopfschuss, während sie schlief. Chapin erklärte der Polizei, dass er ohne ihr Wissen bankrott war und er seiner Frau den Skandal und die erniedrigende Armut ersparen wollte. Er betrachtete den Mord als Gnadenakt. Der Richter nicht. Chapin bekam lebenslänglich.
Aber Lawes ermöglicht Chapin ein angenehmes Leben. Der alte Journalist darf sich im Gefängnis frei bewegen, darf tun, was ihm gefällt, und gehen, wohin er will, solange er als Ghostwriter für Lawes’ Zeitschriftenartikel und Memoiren herhält. Vor kurzem erhielt Chapin sogar die Erlaubnis, den Südhof in Sing Sing in einen englischen Rosengarten umzuwandeln. Und jetzt ernennt Lawes Willie zum Gärtnergehilfen.
Bei seinem ersten Besuch in Chapins Zelle, im alten Todestrakt, findet Willie nicht eine Zelle vor, sondern zwei, zwischen denen die Wand herausgeschlagen wurde. Außerdem ist sie großzügig eingerichtet – Bücherregale, Ledersessel, ein Rollschreibtisch. Die Suiten im Waldorf sind halb so schön. Willie klopft leise an die offenstehende, vergitterte Tür. Chapin, ein eleganter, bebrillter Mann Mitte sechzig in grauen Flanellhosen und hellbrauner Strickweste, hat gerade Gäste. Sie sind alle Schauspieler, einschließlich einem im schicken Panama-Mantel, den Willie aus einem Film kennt, der ihm gar nicht gefiel.
Danny Donavan, the Gentleman Cracksman
– die Geschichte eines Safeknackers mit Stil. Die Einzelheiten und alles, worauf es ankommt, waren vollkommen falsch. Willie will sich gerade vorstellen und den Schauspieler zurechtweisen, als Chapin ihm über den Mund fährt.
Du bist Sutton.
Ja, Sir.
Ich bin gerade schrecklich beschäftigt. Komm um vier wieder.
Als käme Willie nur mal eben in Chapins Privatabteil vorbei, um zu fragen, ob er Shuffleboard spielen möchte. Willie ist kurz davor, Chapin zu sagen, er könne ihm mal seinen irischen Arsch küssen, aber er schweigt. Chapin ist der Liebling des Gefängnisdirektors, ihn zu verärgern wäre unklug.
Chapin behandelt Willie in den folgenden Wochen immer wieder herablassend, doch Willie lächelt nur und nimmt es hin. In seinen Augen ist das kein hoher Preis dafür, dass Lawes ihn in Ruhe lässt und er das Privileg der Arbeit im Freien genießt.
Mit der Zeit stellt Willie fest, dass sich seine Abneigung gegen Chapin in eine perverse Faszination auswächst. Während er neben Chapin kniet und Steppenhexen pflanzt, die laut Chapin Rosenbüsche sind, betrachtet er oft das berühmte Gesicht. Er studiert Chapins breite Stirn und die wachen grauen Augen, bewundert Chapins tadellose Körperpflege. Die meisten Häftlinge verzichten aufs Haarekämmen, aber Chapin verlässt nie seine Zelle, ohne die grauen Locken in der Mitte exakt gescheitelt und mit Duftöl eingeschmiert zu haben. Dem für einen Häftling untypischen Aussehen entspricht auch seine Sprache. Seine Stimme ist gebieterisch, melodisch, ein tiefer Bass. Sie erinnert Willie an die neue Erfindung, um die alle so viel Aufhebens machen – das Radio.
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