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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Aber Chapin ist besser als das Radio, weil er weniger rauscht. Manchmal stellt Willie ihm eine banale Frage, deren Antwort er schon kennt, nur um ihn sprechen zu hören. Besonders gefällt ihm, wie Chapin die Namen der verschiedenen Rosen intoniert.
    Was sagten Sie noch mal, wird aus diesen Büschen, Sir?
    Das, erklärt Chapin, wird die Général Jacqueminot.
    Tatsächlich? Und diese hier?
    Die hübsche Frau Karl Druschki. Und ein paar Madame Butterfly.
    Und die hier?
    Ah. Ja. Dorothy Perkins.
    Sie haben eine sehr schöne Stimme, Mr Chapin.
    Danke, Sutton. Bevor ich Journalist wurde, war ich Schauspieler. Und zwar ein recht guter. Ich gab den Romeo. Und den Lear. Darum lässt uns Anstaltsleiter Lawes jedes Jahr ein paar Stücke aufführen.  
    Ach ja?
    Wenn du interessiert bist, wir brauchen einen neuen Regan. Der Gouverneur hat unseren letzten begnadigt.
    Mhm.
    Willie verstreut betreten eine Tüte Knochenmehl. Chapin, dem das Schweigen auffällt, runzelt die Stirn. Ich habe ein Exemplar in meiner Zelle, Sutton, du kannst es gern haben.
    Danke, Sir.
    Wie lange bist du zur Schule gegangen, Sutton?
    Bis zur achten Klasse, Sir.
    Chapin seufzt. Alle hier drin erzählen die gleiche Geschichte – wenig oder keine Schulbildung. Der sicherste erste Schritt auf dem Weg in die Kriminalität.
    Und welche Ausrede hast du?, würde Willie am liebsten fragen.
    Du musst die Zeit hier drin zum Lesen nutzen, sagt Chapin. Etwas für deine Bildung tun. Unwissen – das hat dich hierhergebracht, lässt dich hier festsitzen und wird dich wieder hier landen lassen.
    Ich lese gern, Sir. Schon immer. Aber wenn ich in eine Bibliothek oder in einen Buchladen gehe, bin ich überwältigt. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.
    Fang irgendwo an.
    Woher weiß ich, ob ein Buch meine Zeit lohnt oder ob es Zeitverschwendung ist?
    Es ist nie Zeitverschwendung. Jedes Buch ist besser als kein Buch. Langsam und sicher führt dich eines zum nächsten, und irgendwann bist du dann bei den besten. Willst du dein Leben lang mit mir Rosen züchten?
    Nein, Sir.
    Dann lies Bücher. So einfach ist das. Ein Buch ist die einzige wirkliche Flucht aus dieser gefallenen Welt. Außer dem Tod.
    Während sie unter der heißen Sonne arbeiten, beide benebelt von den Dünsten des Dungs, erzählt Chapin die rasantesten Plots aus Shakespeare, Ibsen, Chaucer. Er entfaltet die Handlungsabläufe wie reißerische Zeitungsgeschichten, und wenn er zum Höhepunkt kommt und Willie vor Spannung die Luft anhält, hört er auf und sagt, Willie soll das Buch lesen. Es ist, als wollte Chapin Willies Verstand zum Blühen bringen.
    Leider kann Chapin nichts anderes zum Blühen bringen. Der alte Zeitungsmann hat eindeutig einen schwarzen Daumen, schwarz wie die Pest. Nach wochenlanger harter Arbeit haben Willie und Chapin nichts vorzuweisen als Reihe um Reihe angeblicher Rosenbüsche, die allesamt hoffnungslos abgestorben aussehen.
    Gegen Sommeranfang bekommt Willie die Grippe. Zehn Tage lang kann er nicht im Garten arbeiten, ist er zu schwach, um von seiner Pritsche aufzustehen. Er verliert fast vier Kilo und übergibt sich so oft, dass die Wärter schon seine Verlegung ins Krankenhaus erwägen. Oder ins Leichenhaus.
    An einem schönen, windigen Morgen ist sein Fieber endlich vorbei. Juni 1924 . Als er kurz nach dem Frühstück langsam zum Todestrakt geht, bleibt er wie angewurzelt stehen. Vor ihm wogt ein Meer aus Scharlachrot und Cremeweiß, Rosa und Umbrabraun, sattem Violett und zarter Koralle. Eine Brise weht über die jungen Rosen und trägt einen sanften süßen Duft zu Willie.
    Willie sieht Chapin vom Todestrakt in seine Richtung schlendern. Ah! Sutton. Schön, dich wieder unter den Lebenden zu sehen.
    Danke, Sir. Aber der Garten, Sir – wie haben Sie das gemacht? In der kurzen Zeit, die ich weg war.
    Das ist die Natur der Rosen, Sutton. Überrascht dich das?
    Ja, Sir. Nicht dass ich an Ihnen gezweifelt hätte. Aber sie sind alle so – schön. Es ist einige Zeit her, seit ich etwas wirklich Schönes gesehen habe.
    Chapin rückt seine Brille zurecht. Ja, sagt er. Stimmt. Darum habe ich Direktor Lawes gesagt, ähm, gebeten, mich diesen Garten anlegen zu lassen. Ein Mann braucht etwas Schönes zum Überleben.
    Aber was für eine Schande, Sir. Dass etwas so Schönes von so hässlichen Mauern umzingelt ist.
    Jeder Garten ist von Mauern umgeben, Sutton. Lies die Bibel. Lies die Klassiker. Ohne Mauern keine Gärten. Ohne Gärten keine Mauern. Auch der erste Garten war von einer

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