Knapp am Herz vorbei
und die Wangen mit so vielen Leberflecken getüpfelt, dass sie aussieht wie mit Schlamm bespritzt. Sie trägt eine selbstgelegte Dauerwelle, die gründlich misslungen ist. Willie empfindet großes Mitleid mit ihr. Sie muss die heulende Nachbarin sein. Dann hört er wieder das Schreien. Big Ben. Frei herumlaufende Häftlinge. Verwirrt sieht er, wie Marcus zu der Frau eilt und sie auf die leberfleckgetüpfelte Wange küsst.
Willie, darf ich dir meine Braut vorstellen? Dahlia, das ist mein alter Freund Willie Sutton.
Hier ist es passiert, sagt Sutton, tritt einen Schritt zurück und blickt zu der breiten Nase des Löwen hoch, die ihn immer an seine eigene erinnerte. Wo wir schon von Scheidewegen sprechen – auf diesen Stufen bin ich über Marcus gestolpert, unter dem Blick dieser Löwen, im Frühjahr 1930 . So oft habe ich an diesen Moment gedacht und mich gefragt: Was wäre gewesen, wenn? Was wäre gewesen, wenn ich nicht in genau dem Augenblick, als Marcus ein Buch zurückgeben wollte, im Schatten dieses Löwen gesessen hätte? Was wäre gewesen, wenn Marcus beschlossen hätte, den
Untergang des Abendlandes
fertig zu lesen? Was wäre gewesen, wenn ich in der Bibliothek auf der Toilette gewesen wäre oder die Stellenangebote noch ein paar Minuten länger durchgekämmt hätte, wenn ich hallo und Wiedersehen gesagt, wenn ich Marcus zum Teufel geschickt hätte? Was ich alles hätte sagen können, was ich nicht hätte sagen sollen. Vielleicht wäre dann einiges anders.
Sutton wirft dem Löwen einen bösen Blick zu. Du hast es gesehen, sagt er. Geduld oder Standhaftigkeit, wie immer du heißt. Warum hast du mich nicht gewarnt? Mit einem kleinen Brüllen?
Vierzehn
Willie sitzt auf der Treppe zur Bibliothek und wartet, dass sie öffnet. In den letzten paar Monaten konnte er über die Zeitung ein paar vorübergehende Sachen abstauben. Fußböden wischen in einem Bürogebaude – dann musste der Chef den Sparstift ansetzen. Toiletten reinigen am Busbahnhof – dann kam der reguläre Mann wieder zurück. Er ist fast pleite. Er hat keine Familie, keine Freunde, nur Marcus, der noch schlimmer dran ist als Willie. Er muss etwas Festes finden, auf der Stelle, sonst …
Die Bibliothek öffnet ihre Türen. Willie eilt nach oben in den Lesesaal, schnappt sich einen Armvoll Zeitungen, setzt sich auf einen Stuhl. Langsam, zuversichtlich geht er die Stellenangebote durch – zweimal. Nichts. Er reibt sich die Augen, massiert sich die Schläfen.
Er blättert kurz zu den Nachrichtenseiten. Vier Millionen Arbeitslose. Dreizehnhundert Banken bankrott – in diesem Jahr. Im nächsten wird mit einer zwei- bis dreimal höheren Zahl gerechnet. Er zerknittert die Zeitung, schleudert sie auf den Boden. Die Bibliothekarinnen schauen ihn an. Er stürzt hinaus.
Er spürt, wie der Gehsteig ein neues Loch in seine Schuhsohle bohrt. Doch bevor er über das Loch nachdenken kann und wovon er sich neue Schuhe kaufen soll, fängt sein entzündeter Zahn zu pochen an. Er legt eine Hand auf den Kiefer. An den meisten Tagen ist es auszuhalten, aber heute pulsiert es. Er geht immer weiter, kämpft gegen seine Wut, gegen seinen Hunger und steht plötzlich vor einer Bank. Er betrachtet die Marmorsäulen, die Adler aus Gold und Messing an der Eingangstür. Er sieht Kunden kommen und gehen. Er sieht den Wachmann abschließen.
Geschäftsschluss – schon? Wie viele Stunden sind vergangen? Offenbar war er völlig weggetreten.
Er stolpert zurück in seine Absteige. Für eine Woche ist noch bezahlt. Und dann? Er legt sich auf das klumpige Bett, zieht die säuerlich riechende Decke ans Kinn. Sie riecht nach dem vorherigen Mieter. Und dem davor und dem davor. Er stellt sich vor, wie sie alle daliegen, von denselben Sorgen bedrückt. Dann nickt er ein.
Eine Weile später wacht er schweißgebadet auf, sein Nachbar klopft an die Wand. Schnauze da drüben! Offenbar hat er wieder im Schlaf geschrien. Im Zimmer ist es stockfinster. Er weiß nicht, wie spät es ist. Er hat seine Uhr versetzt. Die vielen Lichter an den Häusern gegenüber sagen ihm jedoch, dass es spät ist. Er geht ans Waschbecken, macht den Lappen nass, presst ihn auf Gesicht und Nacken. Dann zieht er Mantel und Hut an und geht nach draußen. Er landet wieder bei der Bank. Auf der anderen Straßenseite ist ein Drugstore, dessen Schaufenster ein Trapez aus weiß-lila Licht auf den Bürgersteig wirft. Willie steht genau außerhalb des Trapezes. Er betrachtet die Fenster der vielen Gebäude
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