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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Chauffeur-Mechaniker – muss beste Referenzen vorweisen. Farbenverkäufer – nur Bewerber mit erstklassiger Erfahrung. Junger Bankangestellter – angemessene Bezahlung, Mittagessen wird gestellt, Highschool-Abschluss Voraussetzung.
    Er fragt sich, warum er eigentlich noch nachsieht.
    Eines trüben Morgens, als er benebelt die Treppe der Bibliothek hinuntergeht, stolpert Willie und verliert fast das Bewusstsein. Seit zwei Tagen hat er nichts gegessen. Doch der Gedanke, wieder in einer Mülltonne zu wühlen, ist ihm unerträglich. Deprimiert setzt er sich unter den Löwen, legt den Kopf in die Hände und betet.
    Plötzlich hört er seinen Namen.
    Er blickt auf. Ein vertrautes Gesicht schält sich aus dem Nebel. Ein dreieckiges Gesicht. Wasserwanzenaugen. Marcus Bassett – aus Dannemora. Mit einem Buch unterm Arm rennt er die Stufen hoch.
Nun kommst du aus einem Menschengewühl.
Willie steht auf und ist überrascht, wie sehr er sich über ein bekanntes Gesicht freut.
    Was macht die Kunst, Marcus?
    Willie! Wie geht’s dir, alter Knabe?
    Willie nimmt das Buch unter Marcus’ Arm.
Der Untergang des Abendlandes.
    Ist heute fällig, sagt Marcus.
    Tut mir leid, Marcus. Die Bibliothek hat eben geschlossen. Du wirst die Strafgebühr zahlen müssen.
    So läuft es ständig bei mir.
    Mir geht es nicht besser.
    Marcus lädt Willie in seine Wohnung nach Uptown ein. Er hat noch eine Flasche geschmuggelten Gin.
    Ein andermal, sagt Willie. Mir geht es nicht besonders gut.
    Aber Marcus lässt nicht mit sich reden. Er schleppt Willie die Fifth Avenue hoch.
    Unterwegs kommen sie an einem silberhaarigen Mann im maßgeschneiderten Anzug vorbei, der Äpfel verkauft. Sie kommen an mehreren Kindern mit rußigen Gesichtern vorbei, die Bleistiftstummel verkaufen. Penny das Stück, Mister? Sie kommen an einer Frau in einem fleckigen Hauskleid und Schlafzimmerpantoffeln vorbei, die mit ihren Pantoffeln redet. Sie kommen an einer Gruppe von Männern vorbei, die mit tiefen Sorgenfalten in den Augenwinkeln vor aufgeschlagenen Zeitungen auf der Haube eines Taxis stehen.
    Sie stoßen auf einen Krankenwagen, der vor einem Wohnheim parkt. Willie fragt einen pummeligen Mann mit Blumenkohlohren, was los ist, obwohl er es schon weiß. Er kann das Gas riechen.
    Schon wieder ein Selbstmord, sagt der Mann. Der dritte diesen Monat im Block.
    Auf den Gehsteigen sehen sie gestapelte Möbelstücke, Nester von Spielsachen und Kleidern, die Habseligkeiten von Familien, die nicht mehr das Geld für die Miete hatten, nicht mehr durchhalten konnten. Der Anblick erinnert an Treibgut, das nach einem Schiffsuntergang an Land geschwemmt wird.
    Ich sitze auch fast auf der Straße, sagt Marcus. Bis vor wenigen Monaten kam ich gut zurecht. Ich war Korrekturleser in einer Werbeagentur. Mein Chef war Alkoholiker, die Arbeit war stumpfsinnig, aber mir gefiel der Job. Ich wurde anständig bezahlt, es war ehrliche Arbeit, das Einzige, was zwischen mir und dem Abgrund stand.
    Was ist passiert?
    Das Geschäft ging um vierzig Prozent zurück. Es lief auf mich und einen anderen Typen hinaus. Der andere war nie im Knast gewesen.
    Als Willie die Kellerwohnung sieht, in der Marcus lebt, Ecke Eighty-Third und Broadway, denkt er, dass Marcus auf der Straße besser dran wäre. Der Vordereingang ist mit Müll übersät, in den Gängen riecht es nach Urin. Altem Urin. Marcus’ lichtloses Zimmer ist ein Kaninchenstall, die Wände mit Zeitungen tapeziert. Alten Zeitungen. Über der Kochplatte hängen Schlagzeilen über Präsident Taft.
    Auf der anderen Seite der Wand heult eine Frau oder ein wildes Tier. Die Wände sind so dünn und das Heulen so laut, dass man meinen könnte, die Frau befinde sich direkt hier im Zimmer. Sie klingt wie Big Ben.
    Fühl dich wie zu Hause, sagt Marcus.
    Willie sieht sich um. Zu Hause? Möbel sind kaum vorhanden, nur eine Couch, die an eine Parkbank erinnert, ein ungemachtes Schrankbett, ein Kartentisch, der sich unter dem Gewicht einer Underwood-Schreibmaschine biegt. Um die Underwood verstreut liegen Ablehnungsbriefe von Hochglanzmagazinen. Willie rollt die Seite in der Schreibmaschine hoch. Lauter mit Xen durchgestrichene Sätze.
    Wie geht es mit dem Schreiben voran, Marcus?
    Ich bin gerade an ner Geschichte über einen arbeitslosen Mann, der in einem Rattenloch lebt. Mir fehlt noch ein Schluss.
    Willie will gerade etwas Mitfühlendes sagen, als die Tür aufgerissen wird und eine erschreckend unattraktive Frau hereinkommt. Keine Taille, keine Brüste

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