Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
typisch. 2006 gab es mehr als 23 000 Kreditbüros in den USA, 4 das sind mehr als alle McDonald’s 5 - und Starbucks 6 -Filialen zusammen (12 000 bzw. 9 000). Sandras Praxis, Kredite zu verlängern und die Gebühren anzuhäufen, ist allgemein üblich. Drei Viertel aller Kleinkredite sindVerlängerungen. Die Gebühren belaufen sich auf jährlich 3,5 Milliarden Dollar. 7
Warum nehmen Leute, die kein Geld haben, so extrem teure Kredite auf, die sie nicht zurückzahlen können? Warum lassen sie es zu, auf eine so schlüpfrige Bahn zu geraten? Solche Fragen führen in der Regel zu Debatten über die Wichtigkeit der persönlichen Verantwortung. Es geht darum, wie kurzsichtig die Armen sind, und dass sie Erziehung in Gelddingen brauchen. Oder man diskutiert, was für ein skrupelloses Geschäft die Kredithaie mit den Armen betreiben. Verbraucheranwälte lamentieren über die Kreditbüros, die sie für räuberisch halten, und fordern das Verbot solcher Kleinkredite. Andere weisen darauf hin, dass in wirklich dringenden Geldnöten ein Kleinkredit besser als nichts sein kann, auch wenn er teuer ist. Wir erzählen dieses Beispiel nicht, weil wir an diese Debatten anknüpfen wollen, sondern weil es ein wichtiges Fenster zur Knappheit öffnet.
Es geht bei alldem um mehr als um Kleinkredite. Wer pleite ist, borgt sich auf verschiedene Weise Geld, und nicht nur durch Kleinkredite. Man »borgt« beispielsweise, indem man die Rechnungen verspätet zahlt. Ungefähr eine von sechs Familien des untersten Einkommensfünftels (die unteren 20 Prozent) zahlen auf das Jahr gerechnet mindestens eine Rechnung nicht rechtzeitig. An oberster Stelle stehen dabei die Gebühren für den Wiederanschluss des Telefons. Nach einer Untersuchung hatten 18 Prozent der ärmsten Familien ihr Telefon abgemeldet, und bei 10 Prozent wurde in den letzten zwölf Monaten die Verbindung stillgelegt. 8 Es kostet 40 Dollar, einen wegen Zahlungsverzug gekappten Telefonanschluss wieder freizuschalten. Diese 40 Dollar sind genau die Gebühr für einen Kleinkredit, der verhindert, dass der Anschluss gekappt wird. 1997 gingen nach einer Untersuchung fast 5 Prozent des Einkommens der Armen für Verzugsgebühren, das erneute Freischalten des Telefons und dergleichen drauf − eine Zahl, die unserer Meinung nach inzwischen dramatisch gestiegen ist. 9 Auch Sandra Harris »borgte« sich Geld: zuerst, indem sie die Steuervorauszahlungen reduzierte, und dann, indem sie mit der Steuer in Rückstand geriet. Die Armen auf der ganzen Welt borgen sich Geld. Oft von »privaten« Geldverleihern, die Zinsen verlangen, die so extrem wie die der Kreditbüros sind und manchmal sogar darüber hinausgehen. 10 Diese armen Schuldner zahlen die Zinsen nicht nur einmal, sondern ständig und setzen damit das Abrutschen auf einer schlüpfrigen Ebene der ständigen Schuldenverlängerung in Gang.
Das Phänomen tritt aber nicht nur bei den Armen auf. Überbeschäftigte »borgen« oft in gleich hohem Ausmaß Zeit. Um Platz für ein Projekt zu schaffen, das bald fällig ist, schieben sie andere Aufgaben auf. Wie bei den Kredithaien kommt die Rechnung nach: Die aufgeschobene Arbeit muss nun getan werden. Und auch für die geborgte Zeit werden Gebühren verlangt: Das Verschieben von Arbeiten kann die Zeit verlängern, die man dafür aufwenden muss. Wenn Sie Ihre Steuerschuld online überweisen, kostet Sie das ein paar Minuten. Aber am letzten Tag müssen Sie sich in den USA in die Warteschlange auf der Post einreihen. Aufgrund einer drohenden Deadline schieben Sie es auf, ihre handschriftlichen Notizen von einem Interview einzutippen. Später müssen Sie die Notizen mühsam entziffern, was Sie mehr Zeit kostet als zuvor, als Sie das Interview noch frisch im Gedächtnis hatten. Und genau wie die Aufnehmer von Kleinkrediten verlängern auch die Überbeschäftigten ihre Kredite immer wieder. Etwas, was Sie heute tun wollten, muss nun verschoben werden, weil etwas, was Sie gestern auf heute verschoben haben, getan werden muss. Wie viele Aufgaben werden immer aus ähnlichen Gründen verschoben, bevor sie endlich erledigt werden? Wenn Sie dann die nächste Chance haben, die verschobene Aufgabe zu erledigen, haben Sie nicht mehr Zeit dafür als zuvor.
Das Borgen geht mit Knappheit Hand in Hand.
tunnelblick und borgen
Warum borgen wir uns etwas, wenn wir mit Knappheit konfrontiert sind? Wir borgen, weil wir mit dem Tunnelblick geschlagen sind. Und wenn wir borgen, vergraben wir uns in der Zukunft
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