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Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Titel: Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sendhil Mullainathan
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noch tiefer in Schulden. Die Knappheit heute sorgt für noch mehr Knappheit morgen.
    Nehmen wir das Beispiel von Sandra. Die erste Rechnung, die sie nicht zahlen konnte, erzeugte Knappheit. Sie verfiel dem Tunnelblick und versuchte, wenigstens diesen Monat über die Runden zu kommen. In ihrem Tunnel erschien ihr der Kleinkredit außerordentlich attraktiv, und sein Vorteil lag auf der Hand: Der Monat war gerettet. Die Kosten des Kredits − Rückzahlung und Gebühren − lagen alle außerhalb dieses Tunnels. Der Kredit schien eine Lösung für das Problem zu bieten, auf das sie fixiert war.
    Unsere eigene qualitative Feldforschung unterstrich die Annahme, dass der Tunnelblick Kleinkredite besonders verlockend macht. Fragen Sie einen Schuldenmacher in dem Moment, in dem er einen Kredit aufnimmt, was sein Plan für die Rückzahlung ist, bekommen Sie gewöhnlich oberflächliche Antworten: »Okay, ich bekomme in einer Woche Geld.« Dann bohren Sie nach: »Aber Sie haben doch sicher noch andere Ausgaben?« Die Reaktion ist Verzweiflung, wie wenn Sie überhaupt noch nichts kapiert hätten: »Verstehen Sie nicht? Ich muss meine Miete diesen Monat zahlen!« Der Subtext ist: »Ich konzentriere mich auf das, was jetzt nötig ist.« Das Budget des nächsten Monats ist abstrakt, etwas, dem man sich später zuwenden kann. Wie alle großen Ziele, die nicht mehr zählen, wenn Sie ganz schnell ins Krankenhaus müssen, zählen in diesem Augenblick die ökonomischen Langzeitfolgen eines Kleinkredits nicht. Das ist der Grund, warum Kleinkredite so attraktiv sind: Leute schließen sie ab, wenn sie mit ihrem Tunnelblick nur noch das Feuer sehen, das sie austreten wollen. Und das Beste ist, dass der Kleinkredit wirklich das Feuer löscht, schnell und effektiv. Das Schlimmste aber wird zugedeckt, dass nämlich das Feuer in der Zukunft zurückkommt, und zwar vielleicht noch größer.
    Das alles gilt natürlich nicht nur für Geldkredite. Denken Sie daran, wie Sie die Antwort auf eine E-Mail vor sich herschieben. Wenn wir uns mit diesem Zeitkredit befassen, sehen wir nur das Gute: »Ich muss jetzt zuerst andere Dinge erledigen.« Wir fragen nicht, ob wir später die Zeit für die E-Mail auftreiben können. Es ist nicht so, dass wir für den zu zahlenden Preis blind sind, aber er gewinnt nicht unsere Aufmerksamkeit.
    Es ist eine unausgesprochene Tatsache, dass unser Tunnelblick bestimmte Dinge nicht erfasst. Sandra ist heute knapp bei Kasse und erwartet auch, dass das im nächsten Monat so ist. Der ständig Überarbeitete hat in dieser Woche viel zu tun, aber natürlich auch in der nächsten. Der Hungernde weiß, dass er auch im nächsten Monat hungrig sein wird. Ist jemand heute von Knappheit betroffen, so wird er es typischerweise nicht nur heute, sondern auch in Zukunft sein. Aber alle sehen nur ihre momentane Knappheit, alles, was mit der Zukunft zu tun hat, nimmt unser Denken nicht in Beschlag. Die Rechnung, die heute fällig ist, führt zu Angst machenden Mahnungen, die Rechnung, die in zwei Monaten fällig ist, haben wir nicht im Blick. Selbst wenn man gewissenhaft über die Knappheit von morgen nachdenkt, bleibt das »Wissen« darüber ganz abstrakt, denn man fühlt die Knappheit nicht, und daher beherrscht sie das Denken nicht. Einer der Gründe dafür ist die Beschränkung der Bandbreite. Die Gegenwart übt automatisch Druck aus, die Zukunft nicht. Sich der Zukunft zuzuwenden erfordert Bandbreite, die wird aber gerade durch die Knappheit eingeschränkt, was dazu führt, dass man sich noch mehr auf das Hier und Jetzt konzentriert. Man braucht kognitive Ressourcen, um die zukünftigen Bedürfnisse abschätzen zu können, und man braucht exekutive Kontrolle, um den (all)gegenwärtigen Verführungen widerstehen zu können. Da Knappheit unsere Bandbreite einschränkt, verweist sie uns auf die Gegenwart und führt dazu, dass wir etwas borgen.
    Es gibt Daten, die diese Annahmen unterstreichen. Erinnern wir uns an die Deadline-Untersuchung in Kapitel 1, in der eine Gruppe von Studenten drei Wochen Zeit hatte, um einen Auftrag fertig zu machen, während eine zweite Gruppe jede Woche eine Deadline hatte. Die zweite Gruppe schnitt besser ab, was wir auf die Fokus-Dividende zurückführten. Natürlich sah die erste Gruppe auch eine Deadline, aber eine, die drei Wochen entfernt war statt nur eine Woche. Daraus ziehen wir die Lehre, dass eine Deadline in drei Wochen keinen Druck ausübt. Auch die wöchentlichen Deadlines mögen nicht allzu

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