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Knochen zu Asche

Knochen zu Asche

Titel: Knochen zu Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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werden.«
    »Niemand wird krank.«
    »Ich muss weg.«
    »Du kannst so lange bleiben, wie du willst.«
    »Das sagst du immer. Aber ich habe das Buch.«
    Ich bemerkte, dass Harry ihr Sammelalbum in der Hand hielt.
    »Den Teil über Évangéline hast du nicht gesehen.«
    »Habe ich schon.«
    Als ich nach dem Buch griff, drehte Harry sich um. Hinter ihrer Schulter konnte ich ein Kind mit langen, blonden Haaren erkennen. Harry redete mit dem Kind, aber ich verstand nicht, was sie sagte.
    Noch immer das Buch in der Hand, ging Harry auf das Kind zu. Ich versuchte, ihr zu folgen, aber die Mokassins rutschten mir immer wieder von den Füßen, sodass ich stolperte.
    Dann schaute ich durch ein vergittertes Fenster ins Sonnenlicht. Um mich herum war Dunkelheit. Harry und das Kind starrten mich an. Nur war es kein Kind. Es war eine alte Frau. Die Wangen waren eingefallen und die Haare silbrig, und um ihren Kopf leuchtete ein weißer Strahlenkranz.

    Vor meinen Augen riss die runzlige Haut um die Lippen und unter den Augen der Frau plötzlich auf. Ihre Nase öffnete sich zu einem zerklüfteten, schwarzen Loch.
    Unter dem Gesicht der Frau erschien nun ein anderes. Es war das Gesicht meiner Mutter. Ihre Lippen zitterten, und Tränen funkelten auf ihren Wangen.
    Ich streckte den Arm durch die Gitterstangen. Meine Mutter hob die Hand. Darin hatte sie ein zerknülltes Papiertaschentuch.
    »Komm raus aus dem Krankenhaus«, sagte meine Mutter.
    »Ich weiß nicht, wie«, sagte ich.
    »Du musst in die Schule gehen.«
    »Bastarache war auch nicht in der Schule«, sagte ich.
    Meine Mutter warf das Knäuel. Es traf mich an der Schulter. Sie warf noch eins. Und noch eins.
    Ich öffnete die Augen. Ryan klopfte mir auf den Arm.
    Ich richtete mich so schnell auf, dass der Liegesessel in die aufrechte Position klappte und arretierte.
    »Bastarache kommt in einer Stunde raus«, sagte Ryan. »Ich hefte mich an seine Fersen, damit ich sehe, wohin er will.«
    Ich schaute auf die Uhr. Es war fast sieben.
    »Du kannst hier bei Hippo bleiben. Oder ich bringe dich in ein Motel und hole dich –«
    »Nichts da.« Ich stand auf. »Fahren wir.«
    Unterwegs versuchte ich, meinen Traum zu analysieren. Die Grundstruktur war das Übliche, mein Hirn mischte jüngste Ereignisse zu einem Fellini-Film zusammen. Ich frage mich oft, was wohl Kritiker über meine nächtlichen Kaleidoskope schreiben würden. Surreale Bildlichkeit ohne genauere Trennung zwischen Fantasie und Wirklichkeit.
    Die eben geträumte Sequenz war eine typische Retrospektive aus meinem Unterbewusstsein. Harry und ihr Sammelalbum. Kelly Sicards Erwähnung von Mokassins. Ihr zerknülltes Papiertaschentuch. Bastarache. Das vergitterte Fenster war zweifellos
ein eigener Beitrag meines Es, ein Symbol für meine Frustration.
    Aber das Erscheinen meiner Mutter verwirrte mich. Und warum die Erwähnung eines Krankenhauses? Und von Krankheit? Und wer war die alte Frau?
    Ich sah Autos vorbeiziehen und fragte mich, warum so viele so früh schon unterwegs waren. Fuhren diese Leute zur Arbeit? Brachten sie ihre Kinder zum frühmorgendlichen Schwimmunterricht? Oder waren sie auf dem Heimweg, nachdem sie die ganze Nacht lang Burger und Fritten serviert hatten?
    Ryan fuhr auf einen Parkplatz vor dem Haupteingang des Gefängnisses, stellte den Motor aus und lehnte sich seitlich an die Fahrertür. Da er offensichtlich Ruhe wollte, hing ich wieder meinen Gedanken nach.
    Minuten vergingen. Zehn. Fünfzehn.
    Nach einer halben Stunde Warten feuerten plötzlich vom Traum inspirierte Synapsen.
    Mutter. Krankenhaus. Krankheit. 1965.
    Das Flüstern, das ich bei meiner Lektüre über das Lazarett in Tracadie im Hinterkopf gehört hatte, schallte plötzlich laut durch mein Bewusstsein.
    Plötzlich saß ich kerzengerade da. Heilige Mutter Gottes. Konnte es wirklich so sein?
    Mein Bauch sagte mir, dass ich über eine Antwort gestolpert war. Fünfunddreißig Jahre und jetzt endlich begriffen.
    Doch statt Triumph empfand ich nur Traurigkeit.
    »Ich weiß, warum Évangéline und Obéline verschwunden sind«, sagte ich, und meine Stimme vibrierte vor Aufregung.
    »Wirklich?« Ryan klang erschöpft.
    »Laurette Landry fing an, ihre Töchter auf Pawleys Island zu bringen, nachdem sie ihren Job im Krankenhaus verloren hatte und danach doppelt in einer Konservenfabrik und einem Motel arbeiten musste. Évangéline und Obéline wurden schleunigst nach Tracadie zurückgeholt, als Laurette krank wurde.«

    »Das hast du doch immer schon

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