Knochen zu Asche
den Klingelknopf. Die rechte ruhte leicht angewinkelt über der Gürteltasche, in der die Glock steckte.
Sekunden später war durch die Tür eine Frauenstimme zu hören.
»As-tu oublié quelque chose?« Hast du was vergessen? Ein vertrautes »Du«.
»Police«, rief Ryan.
Ein Augenblick des Schweigens, und dann: »Sie müssen später wiederkommen.«
Adrenalin schoss mir durch die Adern. Die Stimme klang zwar gedämpft, aber vertraut.
»Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Die Frau antwortete nicht.
Ryan drückte auf die Klingel. Immer und immer wieder.
»Gehen Sie weg!«
Ryan öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Ich fasste ihn am Arm. Seine Muskeln waren hart wie Baumwurzeln.
»Moment«, flüsterte ich.
Ryan schloss den Mund wieder, aber seine Hand blieb in Position.
»Obéline?«, sagte ich. » C’est moi, Tempe. Bitte lass uns rein.«
Die Frau sagte etwas, das ich nicht verstand. Sekunden später sah ich am Rand meines Gesichtsfelds eine Bewegung.
Ich drehte mich zur Seite. Eine heruntergelassene Jalousie bewegte sich leicht. War sie beiseitegeschoben worden, als wir uns dem Haus genähert hatten? Ich konnte mich nicht erinnern.
»Obéline?«
Stille.
»Bitte, Obéline?«
Schlösser klickten, die Tür öffnete sich und Obélines Gesicht erschien in dem Spalt. Wie beim letzten Mal trug sie ein Tuch über dem Kopf.
Sie überraschte mich, indem sie Englisch sprach. »Mein Mann wird bald zurück sein. Er wird sehr wütend sein, wenn er dich hier sieht.«
»Wir dachten, du bist tot. Ich war am Boden zerstört. Harry ebenfalls.«
»Bitte geht. Mir fehlt nichts.«
»Erzählst du mir, was passiert ist?«
Sie kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.
»Wer hat den Selbstmord inszeniert?«
»Ich will doch nur in Ruhe gelassen werden.«
»Das werde ich nicht tun, Obéline.«
Ihr Blick sprang über meine Schulter, zu der Straße, die zum Chemin Royal führte.
»Detective Ryan und ich wollen dir helfen.Wir werden nicht zulassen, dass er dir was tut.«
»Du verstehst nicht.«
» Hilf mir zu verstehen.«
Röte stieg ihr in die unverletzte Haut, was ihrer rechten Gesichtshälfte eine groteske Marmorierung gab.
»Ich brauche nicht gerettet zu werden.«
»Ich glaube schon.«
»Mein Mann ist kein schlechter Mensch.«
»Er hat womöglich Menschen umgebracht, Obéline. Junge Mädchen.«
»Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Genau das hat er auch gesagt.«
»Bitte geht.«
» Wer hat dir den Arm gebrochen? Wer hat dein Haus angezündet? «
Ihre Augen verdunkelten sich. »Warum dieses fanatische Interesse an mir? Du kommst in mein Haus. Du weckst den Schmerz wieder. Jetzt willst du meine Ehe zerstören. Warum kannst du mich nicht einfach in Frieden lassen?«
Ich versuchte es mit einem schnellen Themenwechsel à la Ryan. »Ich weiß über Laurette Bescheid.«
»Was?«
»Das Lazarett. Die Lepra.«
Obéline schaute mich an, als hätte ich sie geschlagen. » Wer hat es dir erzählt?«
» Wer hat Évangéline getötet?«
»Ich weiß es nicht.« Beinahe verzweifelt.
»War es dein Mann?«
»Nein!« Ihr Blick zuckte hin und her wie der einer gejagten Taube.
»Er hat wahrscheinlich zwei kleine Mädchen umgebracht.«
»Bitte, bitte. Alles, was du denkst, ist falsch.«
Ich hielt meinen Blick unbarmherzig auf sie gerichtet. Und drang weiter in sie. »Claudine Cloquet? Phoebe Quincy? Hast du diese Namen schon einmal gehört?«
Ich holte den Umschlag aus meiner Handtasche, riss die Fotos von Quincy und Cloquet heraus und hielt sie ihr hin.
»Schau«, sagte ich. »Schau dir diese Gesichter an. »Ihre Eltern leiden Schmerzen, die nie schlummern werden.«
Sie wandte den Kopf ab, aber ich steckte die Fotos durch den Spalt, sodass sie sie direkt vor Augen hatte.
Sie schloss die Augen, doch dann sackten ihre Schultern nach unten. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme wie die einer Besiegten.
»Moment.« Die Tür wurde geschlossen, eine Kette klirrte, dann ging die Tür wieder auf. »Kommt rein.«
Ryan und ich betraten einen Korridor, der auf beiden Seiten mit Heiligenbildern geschmückt war. Judas. Rosa von Lima. Franz von Assisi. Ein Mann mit einem Stab und einem Hund.
Obéline führte uns an einem Esszimmer samt Bibliothek vorbei zu einem großen Wohnzimmer mit Dielenboden, schweren Eichentischen, einem abgenutzten Ledersofa und üppigen Lehnsesseln. Eine Wand bestand vom Boden bis zur Decke nur aus Glas. Darin eingebaut war ein steinerner, offener Kamin, der den
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