Knochen zu Asche
gewusst.«
»Die Mädchen kamen das erste Mal 1966 auf die Inseln, in dem Jahr, als das Lazarett in Tracadie geschlossen wurde.«
»Könnte ja sein, dass es in Tracadie noch ein anderes Krankenhaus gegeben hatte.«
»Das glaube ich nicht. Ich werde mir natürlich alle Personallisten anschauen, aber ich möchte darauf wetten, dass Laurette Landry in dem Lazarett gearbeitet hatte.«
Ryan warf mir einen kurzen Seitenblick zu und schaute dann sofort wieder zum Gefängnistor.
»Évangéline erzählte mir, dass ihre Mutter viele Jahre lang in einem Krankenhaus gearbeitet hatte. Falls Laurette in dem Lazarett gearbeitet hatte, dann hatte sie engen Kontakt mit Leprakranken gehabt. Tatsache ist, dass sie an etwas erkrankte, das tägliche Pflege durch Évangéline erforderte.«
»Auch wenn Laurette sich mit Lepra infizierte, du redest hier von den Sechzigern. Behandlungsmöglichkeiten gab es seit den Vierzigern.«
»Denk an die Stigmatisierung, Ryan. Ganze Familien wurden gemieden. Es war verboten, Leprakranke oder deren Familienangehörige anzustellen, wenn die infizierte Person im gemeinsamen Haushalt lebte. Und es war ja nicht nur das Leben der Betroffenen, das ruiniert wurde. Die Existenz des Lazaretts hatte verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft Tracadies. Jahrelang tauchte der Name Tracadie auf keinem Produktetikett auf. Wurde eine Firma öffentlich mit Tracadie in Verbindung gebracht, bedeutete das oft den wirtschaftlichen Ruin.«
»Das war vor Jahrzehnten.«
»Wie Hippo sagt, die Akadier haben ein langes und sehr gründliches Gedächtnis. Die Landrys waren keine gebildeten Leute.Vielleicht zogen sie es vor, Laurette zu verstecken. Vielleicht misstrauten sie der Regierung.Wie Bastarache.«
Ryan machte eins seiner unverbindlichen Geräusche.
»Vielleicht hatte Laurette Angst davor, im Lazarett in Quarantäne gesteckt zu werden.Vielleicht war sie fest entschlossen, nicht dort zu sterben, und flehte deshalb ihre Familie an, sie zu Hause zu behalten.«
In diesem Augenblick bimmelte Ryans Handy.
»Ryan.«
Meine Gedanken sprangen von Laurette zu Hippos Mädchen. Waren die beiden wirklich an derselben Krankheit gestorben?
»Sehe ihn.«
Ryans Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Ich folgte seinem Blick zum Gefängnistor.
Bastarache kam in unsere Richtung. Neben ihm ging eine dunkelhaarige Frau in einem unförmigen, grauen Kostüm. Die Frau trug einen Aktenkoffer und gestikulierte beim Reden mit der freien Hand. Ich nahm an, dass ich die Rechtsanwältin Isabelle Francoeur vor mir sah.
Francoeur und Bastarache gingen auf den Parkplatz und stiegen in einen schwarzen Mercedes. Noch immer redend, legte Francoeur den Gang ein und fuhr davon.
Ryan wartete, bis der Mercedes sich in den Verkehr eingereiht hatte, und folgte ihm dann.
36
Ryan und ich fuhren schweigend. Die Stoßzeit war in vollem Schwung, und ich fürchtete, wenn ich die Augen vom Mercedes nehmen würde, dann würden wir ihn in dem Meer aus Stoßstangen und Rücklichtern, das in südlicher Richtung auf die Stadt zuwogte, verlieren.
Ryan spürte meine Nervosität.
»Entspann dich«, sagte er. »Wir verlieren sie schon nicht.«
»Vielleicht sollten wir dichter ranfahren.«
»Dann könnten sie uns bemerken.«
»Wir sitzen in einem Zivilfahrzeug.«
Ryan grinste beinahe. »Diese Karre schreit lauter ›Bulle‹ als Blinklicht und Sirene.«
»Sie fährt in die Stadt.«
»Ja.«
»Glaubst du, dass sie ihn zu Le Passage Noir fährt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann verlier sie nicht.«
Wir befanden uns im Randbezirk von centre-ville , als der Mercedes plötzlich blinkte.
»Sie biegt nach rechts ab«, sagte ich.
Mehrere Autos dahinter reihte Ryan sich ebenfalls auf die Abbiegespur ein.
Noch zwei Mal Blinken. Noch zwei Mal Abbiegen. Ich kaute auf der Nagelhaut meines rechten Daumens herum und beobachtete den Mercedes.
»Sichere Fahrerin«, bemerkte ich.
»Macht’s mir einfacher.«
»Aber sieh zu, dass –«
»Ich sie nicht verliere. Ich versuche, daran zu denken.«
Der Mercedes bog noch einmal ab und hielt dann auf dem Boulevard Lebourgneuf am Bordstein. Ryan fuhr vorbei und parkte einen halben Block weiter unten. Ich schaute in den Seitenspiegel, Ryan in seinen Rückspiegel.
Francoeur legte etwas aufs Armaturenbrett, dann stiegen sie und Bastarache aus, überquerten den Bürgersteig und betraten ein graues Steingebäude.
»Sie hat irgendeinen Parkausweis unter die Windschutzscheibe gelegt«, sagte Ryan. »Wenn das ihr Büro
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