Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knochen zu Asche

Knochen zu Asche

Titel: Knochen zu Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
Vom Netzwerk:
Évangéline und ich.«
    »Pour l’amour du bon Dieu.« Geflüstert.
    »Ich kannte Tante Euphémie und Onkel Fidèle.«
    Die Hand schoss an die Stirn der Frau, senkte sich zu ihrer Brust und wanderte dann von Schulter zu Schulter.
    »Ich suche schon eine sehr lange Zeit nach euch.«
    Die Frau stand auf, legte sich ein Tuch über den Kopf, zögerte kurz und kam dann zur Tür geschlurft.
    Streckte die Hand aus.
    Türangeln quietschten.
    Die Frau trat ins Tageslicht.

17
    Die Erinnerung ist launisch, manchmal spielt sie ein ehrliches Spiel, manchmal trügt sie. Sie kann verdecken, leugnen, quälen oder sich einfach irren.
    Hier gab es keinen Irrtum und auch keinen Trug.

    Obwohl ich das Gesicht der Frau nur zur Hälfte sah, traf mich der Anblick wie ein Schlag in die Magengrube. Dunkle Zigeuneraugen, störrisch wulstige Oberlippe über einer kleinen, schmalen Unterlippe.Auf der Wange ein Muttermal in der Form eines springenden Frosches.
    Eine kichernde Obéline. Évangéline, die sie kitzelte und neckte: Froschgesicht! Froschgesicht!
    Die Haut unter dem Kinn war schlaff, das Gesicht tief gefurcht. Egal. Die Frau war eine gealterte und verwitterte Mutation des Kindes, das ich auf Pawleys Island gekannt hatte.
    Mir traten die Tränen in die Augen.
    Ich sah Obéline, wie sie mit stampfenden Beinchen darum bettelte, bei unseren Spielen mitmachen zu dürfen. Évangéline und ich hatten ihr Geschichten vorgelesen, sie mit Flitter und Tutus kostümiert, ihr am Strand Sandburgen gebaut. Meistens aber hatten wir sie weggeschickt.
    Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Harry und ich haben euch schrecklich vermisst.«
    »Was wollt ihr?«
    »Mit dir reden.«
    »Warum?«
    »Wir würden gern verstehen, warum ihr so plötzlich weg wart. Warum Évangéline nie auf meine Briefe geantwortet hat.«
    »Woher hast du diese Adresse?« Ihre Stimme war dünn wie Draht, Atmen und Schlucken waren sehr regelmäßig, vielleicht die Folge einer Sprechtherapie nach dem Feuer. »Arbeitest du für die Polizei?«
    Ich erzählte ihr, dass ich für den Coroner in Montreal arbeitete.
    »Hat dieser Coroner dich zu mir geschickt?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir gern.«
    Obéline nestelte an dem Kopftuch herum, das sich unter ihrem Kinn bauschte. Die Haut ihrer Finger war narbig und wächsern weiß wie erkaltete Hafergrütze.

    »Das Grauen wird Wirklichkeit.«
    »Wie bitte?« Obélines chiac -Akzent war so stark, dass ich nicht alles verstand.
    »Der wahr gewordene Albtraum.«
    »Entschuldigung?«
    Sie ignorierte meine Frage. »Harry ist auch da?«
    »An der Haustür.«
    Ihr Blick wanderte an mir vorbei und verweilte kurz, wie ich vermutete, bei einem längst vergangenen Augenblick. Dann:
    »Geh wieder zu ihr. Ich lasse euch rein.«
    Nachdem Obéline zurückgeschoben hatte, was wie hundert Riegel klang, ließ sie uns in ein kleines Foyer ein, das in eine große Eingangshalle führte. Das Licht, das durch die Bleiglasfenster fiel, gab dem großen, leeren Saal etwas Provisorisches.
    In der Mitte der Halle führte eine reich mit Schnitzereien verzierte Treppe nach oben, und von der Decke hing ein nachgemachter Louis-Irgendwas-Lüster. Die Halle war möbliert mit geschnitzten und bemalten Bänken mit hoher Lehne, ebenfalls Artefakte aus dem pazifischen Nordwesten.
    An einigen Stellen trug die Blumenmustertapete deutlich leuchtendere, roséfarbene und grüne Rechtecke, was darauf hindeutete, dass dort früher Gemälde oder Porträts gehangen hatten. Der Boden war bedeckt von einem riesigen, persischen Sarouk-Farahan-Teppich, der mehr gekostet haben musste als meine Eigentumswohnung.
    Obéline hatte sich das Kopftuch jetzt um den Hals gewickelt und im Nacken verknotet. Aus der Nähe war offensichtlich, warum. Ihr rechtes Augenlid hing nach unten, und die rechte Wange sah aus wie blasiger Marmor.
    Unwillkürlich wich ich ihrem Blick aus. Dann schoss mir eine Frage durchs Hirn. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die Entstellte wäre und sie die Besucherin aus einer so lange zurückliegenden Vergangenheit?

    Harry sagte » Howdy«. Obéline sagte » Bonjour«. Beide wirkten gehemmt. Beide mieden sie Körperkontakt. Ich wusste, dass Harry dasselbe Mitgefühl und dieselbe Traurigkeit empfand wie ich.
    Obéline bedeutete uns, dass wir sie begleiten sollten. Harry ging hinter ihr her, mit leisem Kopfschütteln. Ich folgte ebenfalls.
    Links und rechts der Halle gingen massive Schiebetüren ab. Hinter der Treppe führten normale Türen in andere

Weitere Kostenlose Bücher