Knochen zu Asche
sie weg, schnäuzte sich und warf das zusammengeknüllte Tuch auf den Tisch. »Weißt du, wie es ist, wenn man so jung jeden verliert, den man liebt?«
In meinem Hirn wetteiferten Bilder. Évangéline, die im Licht meiner Pfadfinder-Taschenlampe las. Évangéline, die Erdnussbutter auf Graham-Cracker strich. Évangéline in einem Badetuch-Cape auf der Suche nach ihrem Geliebten. Kevin. Daddy. Hippos Mädchen, das schon so lange tot war und jetzt in meinem Labor lag.
Ich ging zu Obéline, kauerte mich vor sie hin und legte meine Hände auf ihre Knie. Ich spürte ihre Beine zittern, roch den feinen Duft von muguet. Maiglöckchen.
»Ich weiß es«, flüsterte ich. »Ich weiß es wirklich.«
Sie schaute mich nicht an. Ich senkte den Blick, wollte nicht ihr verwüstetes Gesicht anstarren.
Einen Augenblick saßen wir alle mit gesenkten Köpfen da, ein Stillleben der Trauer. Als ich sah, dass Tränen kleine, dunkle, perfekt runde Kreise auf ihren Rock malten, überlegte ich mir, wie viel ich ihr erzählen sollte.
Sollte ich ihr von den Knochen des jungen Mädchens berichten? Hatte ich mich bei der Altersschätzung von Hippos Mädchen vielleicht geirrt? Konnte sie auch sechzehn gewesen sein?
Diese Frau hatte ihre Mutter, ihre Schwester und ihren Großvater fast gleichzeitig verloren. Ihr Vater hatte sie im Stich gelassen. Ihr Ehemann hatte sie geschlagen und dann verlassen und schließlich versucht, sie zu verbrennen. Eine Erwähnung des Skeletts würde vielleicht Hoffnungen wecken, die später wieder zunichtegemacht werden könnten.
Nein. Ich würde ihren Schmerz nicht noch schlimmer machen. Ich würde warten, bis ich mir sicher war.
Und das war jetzt möglich.
»Ich bin sehr müde.« Obéline zog ein zweites Papiertuch hervor und betupfte sich die unteren Lider.
»Lass mich dir ins Bett helfen.«
»Nein. Bitte. In den Pavillon.«
»Natürlich.«
Harry stand auf. »Kann ich mal kurz auf die Toilette?«
Ich übersetzte.
Obéline antwortete, ohne den Kopf zu heben. »Durch die Küche. Dann durchs Schlafzimmer.«
Ich übersetzte noch einmal und deutete mit dem Kinn auf Obélines Limodose. Harry nickte, sie hatte meine stumme Aufforderung verstanden.
Ich legte Obéline den Arm um die Taille und richtete sie auf. Sie ließ sich durch die Küche, über die Veranda und durch den Garten führen. Vor dem Pavillon löste sie sich von mir und verabschiedete sich.
Ich wandte mich bereits zum Gehen, als ein plötzlicher Gedanke mich innehalten ließ.
»Darf ich dir noch eine Frage stellen?«
Obéline nickte knapp, aber auch ein wenig argwöhnisch.
»Évangéline arbeitete als Hausmädchen. Weißt du, wo?«
Ihre Antwort verblüffte mich.
18
»Droit ici.« Genau hier.
»In Tracadie?«
»In diesem Haus.«
»In diesem Haus?« Ich war so schockiert, dass ich ihren Satz nur wiederholen konnte.
Obéline nickte.
»Das verstehe ich nicht.«
»Évangéline arbeitete für den Vater meines Mannes.«
»Hilaire Bastarache.«
In ihren Augen flackerte etwas. Überraschung ob der vielen Dinge, die ich wusste?
»Die Familien der Bastaraches und der Landrys standen seit Generationen in Verbindung. Der Vater meines Vaters und seine Brüder halfen dem Großvater meines Mannes, Siméon, dieses Haus hier zu bauen. Als Mama krank wurde, bot der Vater meines Mannes Évangéline Arbeit an. Hilaire war Witwer und hatte keine Ahnung von Putzen oder Wäschewaschen. Sie brauchte Arbeit.«
»Acht Jahre später hast du seinen Sohn geheiratet.«
»David war großzügig, er zahlte für meinen Lebensunterhalt, nachdem Évangéline verschwunden war. Er besuchte mich. Sein Vater starb neunzehnhundertachtzig. Er machte mir einen Antrag. Ich nahm ihn an.«
»Du warst sechzehn. Er war dreißig.«
»Ich hatte keine andere Wahl.«
Ich fand die Antwort merkwürdig, ging aber nicht darauf ein.
»Und seitdem lebst du in diesem Haus?«
»Ja.«
»Geht es dir gut hier?«
Resigniert. »Ich will nirgendwo anders sein.«
Ich wollte sie fragen, wovon sie lebte. Tat es aber nicht. Ich kam mir vor, als würden enge Bänder meine Brust einschnüren. Ich schluckte. Nahm ihre Hand.
»Ich verspreche dir eins, Obéline. Ich werde alles tun, um herauszufinden, was mit Évangéline passiert ist.«
Ihre Miene blieb unbewegt.
Ich gab ihr meine Visitenkarte, nahm sie in den Arm.
»Ich werde dich wieder besuchen.«
Sie sagte nichts zum Abschied. Bevor ich um das Haus herumging, schaute ich noch einmal zurück. Sie betrat eben den Pavillon, und die
Weitere Kostenlose Bücher