Knochen zu Asche
Getränk. Mit einem Daumen wischte sie nervös Feuchtigkeit von der Dose.
Wieder stellte ich das Visier scharf.
»Was ist mit Évangéline passiert?«
Der Daumen erstarrte. Obélines schiefer Blick hob sich zu meinem.
»Aber du bist doch gekommen, um mir das zu sagen, oder?«
»Was meinst du damit?«
»Du bist hier, um mir zu sagen, dass man das Grab meiner Schwester gefunden hat.«
Mein Herz machte einen Satz. »Évangéline ist tot?«
Da Harry dem Französisch nicht folgen konnte, war es ihr langweilig geworden, und sie hatte angefangen, Buchtitel zu studieren. Als sie die Schärfe in meiner Stimme hörte, riss sie den Kopf herum.
Obéline befeuchtete sich die Lippen, sagte aber nichts.
»Wann starb sie?« Ich brachte die Wörter kaum heraus.
»Zweiundsiebzig.«
Zwei Jahre, nachdem sie die Insel verlassen hatte. Mein Gott.
Ich dachte an das Skelett in meinem Labor, an das zerstörte Gesicht und die beschädigten Finger- und Zehenknochen.
»War Évangéline krank?«
»Natürlich war sie nicht krank. Das ist verrücktes Gerede. Sie war erst sechzehn.«
Zu schnell? Oder bildete ich mir das nur ein?
»Bitte, Obéline. Sag mir, was passiert ist.«
»Ist das jetzt noch von Bedeutung?«
»Für mich schon.«
Vorsichtig stellte Obéline ihre Dose auf den Klapptisch neben ihrem Sessel. Rückte sich das Kopftuch zurecht. Strich ihren Rock glatt. Legte die Hände in den Schoß. Starrte sie an.
»Mama war bettlägerig. Grand-père konnte nicht arbeiten. So war es Évangélines Aufgabe, Geld nach Hause zu bringen.«
»Sie war doch noch ein Kind.« Ich konnte meine Gefühle nicht verbergen.
»Damals war alles anders.«
Die Aussage hing in der Luft.
Ticktack. Ticktack.
Ich war zu bestürzt, um weiter in sie zu dringen.
Unnötig. Obéline redete aus eigenem Antrieb weiter.
»Als wir getrennt wurden, wollte ich anfangs sterben.«
»Getrennt?«
»Meine Mutter und meine Schwester zogen zu grand-père . Ich wurde zu einem Landry-Cousin geschickt. Aber Évangéline und ich tauschten uns aus. Nicht oft. Aber ich wusste, was los war.
Morgens und abends pflegte Évangéline Mama. Den Rest des Tages arbeitete sie als Hausmädchen. Einen Teil des Lohns bekamen wir für meinen Lebensunterhalt.«
»Was fehlte deiner Mutter?«
»Ich weiß es nicht. Ich war viel zu jung.«
Wieder zu schnell?
»Wo war dein Vater?«
»Falls ich ihn je sehen sollte, werde ich ihn sicher fragen. Das wird natürlich erst in einem anderen Leben sein.«
»Ist er tot?«
Sie nickte. »Das war schwer für Évangéline. Ich wollte helfen, aber ich war doch noch so klein. Was hätte ich denn tun können? «
»Keine von euch ging zur Schule?«
»Ich für ein paar Jahre. Évangéline konnte ja schon lesen und rechnen.«
Meine Freundin, die Bücher und Geschichten liebte und Dichterin werden wollte. Ich wagte es nicht, etwas darauf zu sagen.
»Mama starb«, fuhr Obéline fort. »Vier Monate später dann grand-père .«
Obéline hielt inne. Um sich wieder zu fassen? Um Erinnerungen zu ordnen? Um abzuwägen, was sie sagen und was sie verschweigen sollte?
»Zwei Tage nach grand-pères Begräbnis wurde ich in sein Haus gebracht. Jemand hatte leere Kartons besorgt. Man befahl mir, alles einzupacken. Ich war oben in einem Schlafzimmer, als ich Geschrei hörte. Ich schlich nach unten und horchte an der Küchentür.
Évangéline stritt sich mit einem Mann. Die Worte konnte ich nicht verstehen, aber ihre Stimmen erschreckten mich. Ich rannte wieder nach oben. Als wir dann Stunden später losfahren wollten, schaute ich in die Küche.« Sie schluckte. »Blut. An der Wand. Noch mehr auf dem Tisch. Blutige Lappen im Spülbecken. «
O Gott.
»Was hast du getan?«
»Nichts. Was hätte ich denn tun können? Ich war total verängstigt. Ich behielt es für mich.«
»Wer war der Mann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was ist mit Évangéline passiert?«
»Ich habe sie nie wiedergesehen.«
»Was hat man dir gesagt?«
»Dass sie davongelaufen ist. Ich fragte nicht nach dem Blut oder ob sie verletzt war. Sie war nicht mehr da, und ich musste zurück zu den Landrys.«
Ticktack. Ticktack.
»Ich war acht Jahre alt.« Jetzt zitterte Obélines Stimme. »Damals gab es für Kinder keine sicheren Häuser oder psychologischen Berater. Als Kind hatte man niemanden, mit dem man reden konnte.«
»Verstehe.«
»Wirklich? Weißt du, wie das ist, mit so einem Geheimnis zu leben?« Tränen traten ihr in die Augen. Sie zog ein Papiertaschentuch hervor, wischte
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