Knochen zu Asche
Leprafriedhof neben dem letzten Lazarett.
Hippos Mädchen war von Sheldrake Island gekommen. Ich dachte an sie, als ich die Namen der Toten überflog. Einige waren erbarmungswürdig jung. Mary Savoy, 17, Marie Comeau,
19, Oliver Shearson, 18, Christopher Drysdale, 14, Romain Dorion, 15. Hatte ich noch ein Opfer in meinem Labor?, fragte ich mich. Ein Mädchen, das mit sechzehn Jahren als Ausgestoßene gestorben war?
Mein Blick wanderte vom Laptop zu meinem Handy. Ich wollte, dass es klingelte. Ruf an, Harry. Such dir ein Telefon und wähl. Du musst doch wissen, dass ich mir Sorgen mache. Nicht einmal du kannst so rücksichtslos sein.
Das Ding blieb beharrlich stumm.
Warum?
Ich stand vom Schreibtisch auf und streckte mich. Der Wecker zeigte zwölf nach zwei. Ich wusste, dass ich schlafen sollte. Stattdessen setzte ich mich wieder an den Computer, zugleich entsetzt über das und fasziniert von dem, was ich erfuhr.
Zu den letzten Patienten des Lazaretts gehörten zwei ältere Frauen, Archange und Madame Perehudoff, sowie ein uralter chinesischer Gentleman, den man Hum nannte.Alle drei waren in der Einrichtung alt geworden. Alle drei hatten den Kontakt zu ihren Familien verloren.
Obwohl sie mit Diasone geheilt wurden, verließen weder Madame Perehudoff noch Hum je das Krankenhaus. Beide starben 1964. Erstaunlicherweise erkrankte Archange nie an Lepra, obwohl ihre Eltern und ihre sieben Geschwister die Krankheit hatten. Archange wurde schon als Teenager eingeliefert und harrte dort aus, bis sie zur letzten Bewohnerin des Lazaretts wurde.
Da sie nur noch eine Patientin hatten, beschlossen die guten Nonnen, den Betrieb einzustellen. Doch Archange stellte ein Problem dar. Da sie ihr ganzes Leben mit Leprakranken verbracht hatte, wollte kein Seniorenheim in der Stadt sie haben.
Ich weinte nicht, als ich das las. Aber ich war nahe dran.
Nach langer Suche wurde weit weg von Tracadie ein Platz für Archange gefunden. Einhundertundsechzig Jahre nach der Eröffnung schloss das Lazarett seine Pforten.
Das war im Jahr 1965.
Ich starrte das Datum an, und wieder flüsterte etwas aus meinem Unterbewusstsein.
Wie schon einmal versuchte ich, die obskure Botschaft zu entziffern. Mein erschöpftes Hirn weigerte sich, neue Daten zu verarbeiten.
Ein Gewicht landete auf meinem Schoß. Ich erschrak.
Birdie schnurrte und rieb seinen Kopf an meinem Kinn.
»Wo ist Harry, Bird?«
Die Katze schnurrte noch einmal.
»Du hast recht.«
Ich nahm den Kater in den Arm und ging ins Bett.
Harry saß auf einer geschnitzten Holzbank vor Obélines Pavillon, und ein Totempfahl warf zoomorphische Schatten über ihr Gesicht. Sie hatte ein Sammelalbum in der Hand und bestand darauf, dass ich es mir anschaute.
Die Seite war schwarz. Ich sah überhaupt nichts.
Harry sprach Wörter, die ich nicht verstehen konnte. Ich wollte umblättern, aber mein Arm zuckte nur wild. Immer und immer wieder versuchte ich es, mit demselben spastischen Ergebnis.
Frustriert starrte ich meine Hand an. Ich trug Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern. Aus den Löchern ragte nichts.
Ich versuchte, mit den fehlenden Fingern zu wedeln. Aber nur mein Arm zuckte wieder.
Der Himmel verdunkelte sich, und ein gellender Schrei zerriss die Luft. Ich schaute zur Spitze des Totempfahls hoch.
Der Schnabel des Adlers öffnete sich, und der geschnitzte Vogel schrie noch einmal.
Schwerfällig öffnete ich die Lider. Birdie stieß mich am Ellbogen. Das Telefon klingelte.
Ich tastete nach dem Apparat und schaltete ein.
»… llo.«
Ryan machte keinen seiner üblichen Witze über schlafende Prinzessinnen. »Sie haben den Code geknackt.«
»Was?« Noch immer schlaftrunken.
»Cormiers Flash Drive. Wir sind drin. Hast du Zeit, dir Gesichter anzuschauen?«
»Klar, aber –«
»Soll ich dich abholen?«
»Ich kann fahren.« Ich schaute auf den Wecker. Acht Uhr.
»Zeit, dass du dich nützlich machst, Prinzessin.« Der alte Ryan.
»Ich bin schon seit Stunden auf.« Ich schaute Bird an. Der Kater schaute zurück. Missbilligend?
»Aha.«
»Ich war bis halb vier online.«
»Viel erfahren?«
»Ja.«
»Wundert mich, dass du nach so viel körperlicher Anstrengung so lange wach bleiben konntest.«
»Wegen der Pasta vielleicht?«
Pause.
»Alles okay wegen gestern Abend?«
»Was ist gestern Abend passiert?«
»Zentrale. So schnell wie möglich.«
Tote Leitung.
Fünfzig Minuten später betrat ich einen Konferenzraum in der vierten Etage des Wilfrid-Derome. Das kleine
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