Knochen zu Asche
öffentlichen Hand im Umgang mit der Krankheit.
Was Tracadie anging, erfuhr ich Folgendes:
1849, nach fünf Jahren erschreckend hoher Sterblichkeit, erkannte die Gesundheitsbehörde von New Brunswick, wie unmenschlich die erzwungene Quarantäne auf Sheldrake Island war. In einem abgelegenen Flecken namens Tracadie suchte man sich ein Grundstück und stellte für den Bau eines Lazaretts kärgliche Mittel bereit.
Das Gebäude war ein einstöckiges Holzhaus, das Obergeschoss zum Schlafen, das Erdgeschoss als Aufenthalts- und Speiseraum. Die Toiletten lagen über den Hof. So klein und primitiv die neue Unterkunft auch war, musste sie den siebzehn Überlebenden der Insel doch luxuriös vorgekommen sein.
Auch wenn sie immer noch eingesperrt waren, hatten die Kranken jetzt zumindest ein wenig Kontakt zur Außenwelt. Die Familien waren näher und konnten zu Besuch kommen. Im Verlauf des Jahrzehnts zeigten einige Ärzte unterschiedliche Grade des Engagements. Charles-Marie LaBillois, James Nicholson, A. C. Smith, E. P. LaChapelle, Aldoria Robichaud. Priester
kamen und gingen. Ferdinand-Edmond Gauvreau. Joseph-Auguste Babineau.
Trotz besserer Bedingungen blieben die Todesraten in den ersten Jahren ziemlich hoch. Aus Mitleid meldete sich ein Pflegeorden mit Hauptsitz in Montreal, Les Hospitalières de Saint-Joseph, freiwillig für die Pflege der Kranken. Die Nonnen kamen 1868 und blieben für immer.
Ich schaute mir grobkörnige Fotos dieser tapferen Schwestern an, feierlich-ernst in ihren weißen Flügelhauben und den langen, schwarzen Kutten. Allein, in der Dunkelheit, sagte ich mir ihre musikalischen Namen laut vor. Marie Julie Marguerite Crère, Eulalia Quesnel, Delphine Brault, Amanda Viger, Clémence Bonin, Philomène Fournier. Hätte ich je so selbstlos sein können?, fragte ich mich. Hätte ich die Kraft und die Seelenstärke gehabt, mich selbst derart und in solchem Maß zu opfern?
Ich betrachtete Patientenfotos, die man aus den Beständen des Musée historique de Tracadie eingescannt hatte. Zwei junge Mädchen, die Köpfe rasiert, die Hände in den Achselhöhlen versteckt. Ein Mann mit buschigem Bart und eingefallener Nase. Eine Oma mit Kopftuch und bandagierten Füßen. Etwa 1886. 1900. 1924. Die Moden änderten sich. Die Mienen der Verzweiflung blieben immer dieselben.
Augenzeugenberichte waren noch herzzerreißender. 1861 beschrieb ein Priester des Lazaretts das Aussehen eines Leidenden im Endstadium der Krankheit:
»… Gesichtszüge sind nur noch tiefe Furchen, die Lippen große, eiternde Geschwüre, die obere stark angeschwollen und zur nicht mehr vorhandenen Nasenbasis aufgebogen, die untere über das glänzende Kinn hängend.«
Das Leben dieser Leute war unvorstellbar schmerzhaft gewesen. Verachtet von Fremden. Gefürchtet von Familien und Freunden.Verbannt in ein lebendes Grab.Tot unter den Lebenden.
Hin und wieder musste ich den Computer verlassen. Durch die Zimmer meiner Wohnung gehen. Tee kochen. Eine Erholungspause einlegen, bevor ich weitermachen konnte.
Und immer quälten mich Fragen nach Harry.Wohin war sie gegangen? Warum rief sie nicht an? Dass es mir nicht gelang, meine Schwester zu erreichen, machte mich nervös und hilflos.
Das Lazarett wurde drei Mal neu aufgebaut. Leicht versetzt. Vergrößert. Verbessert.
Verschiedene Behandlungsmethoden wurden ausprobiert. Ein Wundermittel namens Fowle’s Humoralheilmittel. Chaulmoogra-Öl. Chaulmoogra-Öl mit Chinin oder Wildkirschensirup. Als Injektion. Als Kapsel. Nichts half.
Doch 1943 kam Dr. Aldoria Robichaud nach Carville in Louisiana, wo es ein Leprosarium mit vierhundert Betten gab. Die dortigen Ärzte experimentierten mit Sulfonamiden.
Nach Robichauds Rückkehr wurde die Diasone-Therapie auch in Tracadie eingeführt. Ich konnte mir die Freude, die Hoffnung vorstellen. Zum ersten Mal war eine Heilung möglich. Die Nachkriegsjahre brachten weitere pharmazeutische Durchbrüche. Dapsone. Rifampicin. Clofazimine. Kombinationstherapien mit verschiedenen Medikamenten.
Die abschließende Zählung ergab dreihundertzwanzig Menschen, die in New Brunswick gegen Lepra behandelt wurden. Nicht nur Kanadier, sondern auch Kranke aus Skandinavien, China, Russland, Jamaika und anderen Ländern.
Neben den fünfzehn Leichen, die man auf Sheldrake Island zurückließ, wurden einhundertfünfundneunzig in Tracadie beerdigt, vierundneunzig davon auf dem Friedhof der Lazarettgründer, zweiundvierzig auf dem Kirchenfriedhof und neunundfünfzig auf dem
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