Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
Morddezernat.« Ich konnte mir vorstellen, wie er mit irgendeinem Gegenstand auf etwas klopfte, das Gesicht verkniffen vor Ungeduld.
»Ja. Ich möchte einfach nur wissen, an wen ich mich wenden muß«, blaffte ich. Er gab mir deutlich das Gefühl, schlecht vorbereitet zu sein, und das machte mich wütend. Und vermasselte mir meine Grammatik. Wie immer brachte Claudel nicht gerade das Beste in mir zum Vorschein, vor allem, wenn seine Kritik an meiner Vorgehensweise zum Teil berechtigt war.
»Versuchen Sie es bei der Vermißtenstelle.«
Und dann lauschte ich einer toten Leitung.
Ich kochte noch vor Wut, als das Telefon klingelte.
»Dr. Brennan«, bellte ich.
»Rufe ich zu einem ungelegenen Zeitpunkt an?« Das weiche Südstaatenenglisch war ein scharfer Kontrast zu Claudels barschem, nasalem Französisch.
»Dr. Jeannotte?«
»Ja. Bitte nennen Sie mich Daisy.«
»Bitte entschuldigen Sie, Daisy. Ich… ich habe ein paar anstrengende Tage hinter mir. Was kann ich für Sie tun?«
»Nun, ich habe interessantes Material über die Nicolets für Sie gefunden. Ich schicke es nur nicht gerne mit Kurier, weil einiges alt und wahrscheinlich ziemlich wertvoll ist. Könnten Sie vielleicht vorbeikommen und es abholen?«
Ich sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Verdammt, warum nicht? Und wenn ich schon auf dem Campus war, konnte ich mich vielleicht auch nach Anna erkundigen. Dann hätte ich zumindest etwas, das ich Schwester Julienne sagen könnte.
»Ich könnte gegen Mittag bei Ihnen sein. Wäre Ihnen das recht?«
»Das wäre großartig.«
Wieder war ich zu früh dran. Wieder war die Tür offen und das Büro leer bis auf eine junge Frau, die Zeitschriften in Regale räumte. Ich fragte mich, ob es derselbe Stapel war, den Jeannottes Assistentin am Mittwoch sortiert hatte.
»Hallo. Ich suche Dr. Jeannotte.«
Die Frau drehte sich um. Sie war groß, etwa einsachtzig, und hatte sehr kurz geschnittene dunkle Haare. Das Verblüffende an ihr waren die Augen. Sie waren riesig und von einem dunklen Blauviolett.
»Sie ist nur eben nach unten gegangen. Haben Sie einen Termin?«
»Ich bin ein bißchen früh dran. Kein Problem.«
Das Büro war so warm und so vollgestopft wie bei meinem ersten Besuch. Ich zog die Jacke aus und steckte die Handschuhe in die Tasche. Die Frau deutete auf einen hölzernen Garderobenständer, und ich hängte die Jacke auf. Sie sah mir wortlos zu.
»Sie hat aber viele Zeitschriften«, sagte ich und deutete auf den Stapel auf dem Schreibtisch.
»Ich glaube, ich tue mein ganzes Leben nichts anderes, als diese Dinger zu sortieren.« Sie streckte sich und stellte eine Zeitschrift auf ein Regal über ihrem Kopf.
»Ich schätze, groß zu sein ist dafür nicht schlecht.«
»Das ist für einiges nicht schlecht.«
»Am Mittwoch habe ich Dr. Jeannottes Assistentin kennengelernt. Auch sie hat Regale eingeräumt.«
»Hm-hm.« Die Frau griff nach dem nächsten Band und las das Rückenetikett.
»Ich bin Dr. Brennan«, sagte ich.
Sie stellte die Zeitschrift auf ein Brett in Augenhöhe.
»Und Sie…«, fragte ich.
»Sandy O’Reilly«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. Ich fragte mich, ob meine Bemerkung über ihre Größe sie beleidigt hatte.
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sandy. Erst als ich am Mittwoch schon weg war, ist mir aufgefallen, daß ich die andere Assistentin gar nicht nach ihrem Namen gefragt habe.«
Sie zuckte die Achseln. »Anna hat das bestimmt nichts ausgemacht.«
Der Name traf mich wie ein Schlag. So viel Glück konnte es doch gar nicht geben.
»Anna?« fragte ich. »Anna Goyette?«
»Ja.« Endlich drehte sie sich zu mir um. »Kennen Sie sie?«
»Nein, eigentlich nicht. Eine Studentin dieses Namens ist verwandt mit einer Bekannten von mir, und ich habe mich nur gefragt, ob es dieselbe ist. Ist sie heute hier?«
»Nein, ich glaube, sie ist krank. Darum arbeite ich ja. Ich habe freitags keinen Dienst, aber Anna konnte nicht, und deshalb hat Dr. Jeannotte mich gebeten, heute einzuspringen.«
»Sie ist krank?«
»Ja, glaube ich zumindest. Eigentlich weiß ich es nicht. Ich weiß nur, daß sie mal wieder nicht da ist. Ist aber okay. Ich kann das Geld gut gebrauchen.«
»Wieder mal?«
»Na ja. Sie fehlt ziemlich oft. Meistens springe ich dann ein. Das Geld ist nicht schlecht, aber meiner Dissertation hilft es nicht.« Sie lachte kurz auf, aber ich hörte Verärgerung in ihrer Stimme.
»Hat Anna gesundheitliche Probleme?«
Sandy legte den Kopf schief und sah mich an.
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