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Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan

Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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meine Gedanken waren nicht bei Élisabeth Nicolet. Sie waren noch immer bei dem, was Sandy gesagt hatte.
    »Und dieses Buch hier ist über die Pockenepidemie von 1885. Es kann gut sein, daß Sie darin etwas über Élisabeth Nicolet oder ihre Arbeit finden. Und wenn nicht, vermittelt es Ihnen wenigstens einen Eindruck der Zeit und des enormen Leids, das damals in Montreal herrschte.«
    Das Buch war neu und in perfektem Zustand, als hätte es noch nie jemand gelesen. Ich blätterte ein wenig darin, ohne etwas zu sehen. Was hatte Sandy noch sagen wollen?
    »Aber ich glaube, die hier werden Ihnen besonders gefallen.« Sie gab mir drei Bände, die aussahen wie alte Kassenbücher. Dann lehnte sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen zurück und sah mich gespannt an.
    Die Einbände waren grau, mit purpurfarbenen Rücken und Prägungen. Behutsam schlug ich den ersten Band auf und blätterte darin. Er roch moderig, als wäre er jahrelang in einem Keller oder auf dem Dachboden aufbewahrt worden. Es war kein Kassenbuch, sondern ein Tagebuch, mit Eintragungen in markanter, klarer Schrift. Ich sah mir den ersten Eintrag an. 1. Januar 1844. Dann blätterte ich zum letzten. 23. Dezember 1846.
    »Geschrieben wurden sie von Louis-Philippe Bélanger, Élisabeths Onkel. Es ist bekannt, daß er ein herausragender Tagebuchschreiber war, und so habe ich auf gut Glück bei unserer Abteilung für seltene Dokumente nachgefragt. Und tatsächlich besitzt die McGill einen Teil der Sammlung. Ich weiß nicht, wo die übrigen Tagebücher sind oder ob sie überhaupt erhalten sind, aber ich könnte versuchen, es herauszufinden. Ich mußte meine Seele verpfänden, um die zu bekommen«, lachte sie. »Ich habe mir die ausgeliehen, die aus der Zeit von Élisabeths Geburt und früher Kindheit stammen.«
    »Das ist zu schön, um wahr zu sein«, sagte ich und hatte Anna Goyette für einige Augenblicke vergessen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    »Sagen Sie, daß Sie sie hüten werden wie Ihren Augapfel.«
    »Darf ich sie wirklich mitnehmen?«
    »Ja. Ich vertraue Ihnen. Ich bin mir sicher, daß Sie ihren Wert zu schätzen wissen und sie entsprechend behandeln werden.«
    »Daisy, ich bin überwältigt. Das ist mehr, als ich mir erhofft hatte.«
    Sie machte eine wegwerfende Geste und legte dann die Hand wieder in den Schoß. Einen Augenblick lang schwiegen wir beide. Ich konnte es kaum erwarten, von dort wegzukommen und mich in die Tagebücher zu vertiefen. Dann fiel mir Schwester Juliennes Nichte wieder ein. Und Sandys Worte.
    »Daisy, ob ich Sie wegen Anna Goyette etwas fragen dürfte?«
    »Ja.« Sie lächelte noch immer, aber ihr Blick wurde argwöhnisch.
    »Wie Sie wissen, habe ich mit Schwester Julienne zusammengearbeitet, und sie ist Annas Tante.«
    »Ich wußte gar nicht, daß die beiden Verwandte sind.«
    »Ja. Schwester Julienne hat mich angerufen, weil Anna seit ein paar Tagen nicht mehr nach Hause gekommen ist und ihre Mutter sich große Sorgen macht.«
    Während der Unterhaltung mit Jeannotte waren mir Sandys Bewegungen beim Einsortieren der Zeitschriften immer bewußt gewesen. Jetzt wurde es sehr still am anderen Ende des Büros. Auch Jeannotte bemerkte es.
    »Sandy, Sie sind sicher schon sehr müde. Machen Sie doch mal eine kleine Pause.«
    »Ich bin schon fast fe–«
    »Jetzt, bitte.«
    Sandys Blick traf den meinen, als sie an uns vorbei zur Tür ging. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich.
    »Anna ist eine sehr intelligente junge Frau«, fuhr Jeannotte fort. »Ein bißchen kapriziös, aber von hellem Verstand. Ich bin mir sicher, daß es ihr gutgeht.« Sehr entschieden.
    »Ihre Tante sagt, es paßt überhaupt nicht zu Anna, daß sie so einfach verschwindet.«
    »Vermutlich hat Anna nur ein bißchen Zeit zum Nachdenken gebraucht. Ich weiß, daß sie gewisse Unstimmigkeiten mit ihrer Mutter hatte. Sie ist wahrscheinlich für ein paar Tage weggefahren.«
    Sandy hatte angedeutet, daß Jeannotte ihren Studenten gegenüber sehr beschützend war. Erlebte ich sie nun in dieser Rolle? Wußte die Professorin etwas, das sie mir nicht sagte?
    »Wahrscheinlich bin ich einfach eine größere Schwarzseherin als die meisten. Aber in meiner Arbeit sehe ich viele junge Frauen, denen es nicht gutgeht.«
    Jeannotte betrachtete ihre Hände. Einen Augenblick lang herrschte absolutes Schweigen. Dann sagte sie mit demselben Lächeln wie zuvor: »Anna Goyette versucht, sich aus dem Einflußbereich einer unmöglichen häuslichen Situation zu lösen. Das

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