Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
eingeweicht. Falls irgendwelche Kerben oder Riefen vorhanden waren, wollte ich nicht, daß sie durch Auskochen oder Abkratzen beschädigt wurden, und da auch die Verwendung von Skalpell oder Schere zu riskant war, blieb mir nichts anderes übrig, als hin und wieder das Wasser zu wechseln und behutsam das Fleisch abzulösen.
Ich war froh um diese kurze Flaute in all der Hektik, und ich nutzte die Zeit, um den Bericht über Élisabeth Nicolet abzuschließen, den ich für diesen Tag versprochen hatte. Da ich am Montag nach Charlotte zurückkehren mußte, hatte ich vor, die Rippen übers Wochenende zu untersuchen, und hoffte, alles Dringende bis zum Montag erledigen zu können, wenn sonst nichts dazwischenkam. Mit dem Anruf, den ich um halb elf erhielt, hatte ich nicht gerechnet.
»Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie schon wieder anrufe, Dr. Brennan.« Englisch, sehr langsam, jedes Wort mit Bedacht gewählt.
»Schwester Julienne, freut mich, von Ihnen zu hören.«
»Bitte. Ich muß mich wirklich für die Anrufe entschuldigen.«
»Die Anrufe?« Ich wühlte in den rosa Zetteln auf meinem Schreibtisch. Ich wußte, daß sie am Mittwoch noch einmal angerufen hatte, dachte aber, sie hätte nur unsere vorangegangene Unterhaltung fortsetzen wollen. Doch es lagen noch andere Zettel mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer auf meinem Tisch.
»Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muß. Ich war gestern den ganzen Tag so beschäftigt, daß ich keine Zeit hatte, meine Nachrichten durchzusehen. Tut mir leid.«
Keine Antwort.
»Ich bin gerade dabei, den Bericht abzuschließen.«
»Darum geht es nicht. Ich meine, natürlich ist das sehr wichtig. Wir sind alle schon sehr gespannt…«
Sie zögerte, und ich konnte mir vorstellen, wie ihre dunklen Brauen sich zusammenzogen und das Stirnrunzeln, das sie beständig trug, noch vertieften. Schwester Julienne war immer besorgt.
»Mir ist das sehr peinlich, aber ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich habe natürlich gebetet, und ich weiß, daß Gott mir zuhört, aber ich habe das Gefühl, daß ich selbst auch etwas tun sollte. Ich widme mich ganz meiner Arbeit, der Verwaltung von Gottes Archiven, aber… nun, ich habe auch eine irdische Familie.« Sie formulierte sehr präzise, gestaltete ihre Sätze wie ein Bäcker, der Teig formt.
Wieder eine lange Pause. Ich wartete.
»Er hilft denen, die sich selber helfen.«
»Ja.«
»Es geht um meine Nichte, Anna. Anna Goyette. Sie ist diejenige, von der ich am Mittwoch erzählt habe.«
»Ihre Nichte?« Ich konnte mir gar nicht vorstellen, worauf sie hinauswollte.
»Die Tochter meiner Schwester.«
»Verstehe.«
»Sie ist… Wir wissen nicht, wo sie ist.«
»Aha.«
»Sie ist normalerweise ein sehr rücksichtsvolles Kind, sehr verläßlich, bleibt nie weg, ohne Bescheid zu sagen.«
»Aha.« Allmählich begriff ich.
Schließlich rückte sie damit heraus. »Anna war seit Mittwoch nicht mehr zu Hause, und meine Schwester ist verzweifelt. Ich habe ihr natürlich geraten zu beten, aber, nun ja…« Sie beendete den Satz nicht.
Ich wußte nicht so recht, was ich sagen sollte. Daß das Gespräch diese Richtung nahm, hatte ich nicht erwartet.
»Ihre Nichte ist verschwunden?«
»Ja.«
»Wenn Sie sich Sorgen machen, sollten Sie zur Polizei gehen.«
»Meine Schwester hat schon zweimal angerufen. Man hat ihr gesagt, daß die Polizei bei jemandem in Annas Alter üblicherweise erst nach achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden etwas unternimmt.«
»Wie alt ist Ihre Nichte?«
»Anna ist neunzehn.«
»Sie ist diejenige, die an der McGill studiert?«
»Ja.« Ihre Stimme klang äußerst angespannt.
»Schwester, es gibt da vermutlich wirklich keinen Grund…«
Ich hörte, wie sie ein Schluchzen unterdrückte. »Ich weiß, ich weiß, und es ist mir auch sehr unangenehm, Sie zu belästigen, Dr. Brennan.« Sie stieß die Worte zwischen heftigen Atemzügen hervor, wie bei einem Schluckauf. »Ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind, ich weiß das, aber meine Schwester ist hysterisch, und ich weiß einfach nicht, was ich ihr sagen soll. Vor zwei Jahren hat sie ihren Mann verloren, und jetzt hat sie das Gefühl, daß Anna das einzige ist, was sie noch hat. Virginie ruft mich jede halbe Stunde an und bettelt, ich soll ihr doch helfen, ihre Tochter zu finden. Ich weiß, daß das nicht Ihre Aufgabe ist, und ich würde Sie nie anrufen, wenn ich nicht so verzweifelt wäre. Ich habe gebetet, aber, oh…«
Ich erschrak, als ich
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