Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
das Publikum hört und sieht zu. 1964 wurde bei einer landesweiten Umfrage festgestellt, daß siebenunddreißig Prozent der Amerikaner an Satan glaubten. 1975 war diese Zahl auf über 50 Prozent geschnellt. Wer weiß, wie hoch der Prozentsatz heute ist.«
»Aber ist denn das nicht nur Teil des wachsenden Interesses am Mystizismus in der amerikanischen Kultur im Verlauf der letzten dreißig Jahre?«
»Natürlich. Und welcher andere Trend hat sich in der letzten Generation manifestiert?«
Ich hatte das Gefühl, ausgefragt zu werden. Was hatte das alles mit Anna zu tun? Ich schüttelte den Kopf.
»Der Anstieg der Popularität des fundamentalistischen Christentums. Natürlich hat die Wirtschaft viel damit zu tun. Entlassungen. Firmenschließungen. Produktionsverschlankungen. Armut und wirtschaftliche Unsicherheit sind sehr belastend. Aber das ist nicht die einzige Ursache für derartige Ängste. Menschen auf jedem wirtschaftlichen Niveau sind verunsichert angesichts des Wandels sozialer Normen. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen haben sich verändert, die Beziehungen innerhalb der Familien und zwischen den Generationen.«
Sie zählte die Punkte an ihren Fingern ab.
»Die alten Erklärungen greifen nicht mehr, neue haben sich noch nicht etabliert. Die fundamentalistischen Kirchen bieten Trost, indem sie einfache Antworten auf komplexe Fragen liefern.«
»Satan.«
»Satan. Satan ist der Ursprung alles Bösen auf dieser Welt. Teenager werden zur Teufelsanbetung verleitet. Kinder werden entführt und in dämonischen Ritualen getötet. Satanisch motivierte Viehschlachtungen greifen um sich. Das Proctor-and-Gamble-Logo enthält ein geheimes satanisches Symbol. Und die frustrierte Masse stürzt sich auf diese Gerüchte und nährt sie, so daß sie immer weiter um sich greifen können.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß Satanskulte überhaupt nicht existieren?«
»Nein. Es gibt einige wenige, sagen wir mal, in der Öffentlichkeit präsente, straff organisierte Satanistengruppen, wie zum Beispiel die von Anton LaVey.«
»Die Kirche Satans, drüben in San Francisco.«
»Ja, aber das ist eine sehr kleine Gruppe. Die meisten ›Satanisten‹«, sie malte mit den Zeigefingern Anführungsstriche in die Luft, »sind wahrscheinlich einfach nur Kinder, die Teufelsanbetung spielen. Es handelt sich vorwiegend um Jungen und Mädchen aus der weißen Mittelschicht der Vorstädte, die sich treffen und praktizieren, was sie für schwarze Magie halten. Gelegentlich schlagen diese Kinder über die Stränge, sie schänden Kirchen oder Friedhöfe, sie quälen Tiere, aber meistens vollziehen sie nur irgendwelche Rituale oder gehen auf Legendentrips.«
»Legendentrips?«
»Ich glaube, der Begriff stammt von den Soziologen. Ausflüge zu unheimlichen Orten wie Friedhöfen oder Spukhäusern. Sie zünden Lagerfeuer an, erzählen sich Geistergeschichten, sprechen Flüche aus, verwüsten vielleicht irgend etwas. Das ist so ziemlich alles. Und wenn die Polizei dann später Graffiti findet oder einen umgestürzten Grabstein, eine Feuerstelle, vielleicht eine tote Katze, dann geht sie einfach davon aus, daß die gesamte örtliche Jugend einem Satanskult angehört. Die Presse nimmt es auf, der Pfarrer läutet die Alarmglocken, und schon ist eine neue Legende geboren.«
Sie war wie immer völlig gelassen, aber ihre Nasenlöcher flatterten beim Reden, was eine Anspannung verriet, die ich an ihr zuvor noch nicht gesehen hatte. Ich sagte nichts.
»Ich will andeuten, daß die Bedrohung durch den Satanismus stark überzeichnet ist. Noch ein Subversionsmythos, wie Ihre Kollegen sagen würden.«
Unvermittelt war ihre Stimme lauter und schärfer geworden, so daß ich beinahe erschrak.
»David! Sind Sie das?«
Ich hatte nichts gehört.
»Ja, Ma’am.« Gedämpft.
Ein großer junger Mann erschien in der Tür, das Gesicht verborgen unter der Kapuze seines Parkas und hinter einem riesigen Schal, den er um den Hals geschlungen hatte. Die leicht gebückte Gestalt kam mir irgendwie bekannt vor.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Jeannotte stand auf und verließ das Büro. Ich bekam von ihrem Gespräch nur wenig mit, aber der junge Mann klang erregt, seine Stimme stieg und fiel wie das Heulen eines Kindes. Jeannotte unterbrach ihn häufig. Sie sprach in knappen Sätzen, und ihre Stimme war so ruhig wie die seine sprunghaft. Ich verstand nur ein einziges Wort. »Nein.« Sie wiederholte es mehrmals.
Dann herrschte Schweigen. Kurz
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