Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
schlafen, einem Nebengebäude, das eigentlich gar kein Stall mehr ist, weil sie es zu einer Waschanlage und Reparaturwerkstatt umgebaut hat. Im Kellergeschoss befindet sich ein Schießstand, und in der oberen Etage gibt es ein möbliertes Gästeapartment. Beim Sprechen ging sie hin und her. Die andere Person war nicht mehr zu hören, was wahrscheinlich ihre Absicht war.
Ich bin schon eine Zeitlang nicht mehr in Lucys Landhaus, wie sie es nennt, eingeladen gewesen. Es ist ein etwa vierundzwanzig Hektar großes ehemaliges Gestüt, an dem sie schon seit einem Jahr herumrenoviert, um Platz für ihre der Schwerkraft trotzenden Maschinen zu schaffen. Die Scheune hat sie in eine riesige Garage verwandelt, die frühere Koppel ist heute ein betonierter Hubschrauberlandeplatz. Marino sei
einigermaßen okay.
Ich solle mir keine Sorgen um ihn machen, teilte Lucy mir mit. Die letzte Beziehung hatte sie, soweit ich weiß, im Frühsommer und hat sich mit dieser Person mehr als einmal in Provincetown getroffen.
Natürlich sei Marino aufgebracht, fuhr Lucy fort. Er sei wütend. Ich musste ständig an den goldenen Siegelring denken, den sie gestern getragen hat, habe sie aber nicht danach gefragt. Ich weiß, wann es besser ist zu schweigen. Allerdings wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie herumdruckste, und ich hatte den Verdacht, dass ihr Streit mit Marino vielleicht gar nichts mit seiner misslichen Lage zu tun hatte. Vielleicht ist er wegen der Person, die sich im Haus aufhält und über die sie nicht reden will, in den Stall umgezogen. Einer Person, mit der Marino nicht einverstanden ist, und er hat Lucy gegenüber, was ihre Lebensentscheidungen angeht, noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.
Im CFC ist es merkwürdig still. Marinos Abwesenheit hat eine Lücke hinterlassen, die man fast mit Händen greifen kann. Ich betrete das Gebäude durch die Anlieferungszone. Von Lucys Auto, ganz gleich, für welches sie sich heute entschieden haben mag, fehlt jede Spur. Doch inzwischen ist sie sicher unterwegs hierher, weil ich sie um Hilfe gebeten habe. Ich habe sie gefragt, wie man einem Identitätsdiebstahl bei Twitter auf die Spur kommt. Sei es möglich, dass der Mensch, der mir das Video und das Bild eines abgetrennten Ohres geschickt hat, als Peggy Stanton mit Marino twittern konnte? Eigentlich klingt das nicht sehr wahrscheinlich, wäre da nicht das zeitliche Zusammentreffen so vieler schrecklicher Ereignisse auf einmal.
Ich schließe die Tür zur Autopsieabteilung auf und werfe an der Pforte einen Blick ins Eingangsbuch. Seit letzter Nacht sind fünf Fälle eingeliefert worden, zwei mutmaßliche Drogentote, ein Erschossener, ein plötzlicher Zusammenbruch auf einem Parkplatz und ein überfahrener Fußgänger, Fahrer flüchtig. Die Autopsien laufen schon. Ich habe Luke gebeten, ohne mich anzufangen. Außerdem müssten wir noch über Howard Roth sprechen. Ich möchte mir die Fundortfotos anschauen, seine Kleidung untersuchen und einen Blick auf die Leiche werfen, bevor sie freigegeben wird. Da ich nicht glaube, dass man sich bei einem Treppensturz den Brustkorb zerschmettern kann, brauche ich so viele Hintergrundinformationen wie möglich.
Ich gehe durch eine andere Tür und eine Rampe hinunter in den abgetrennten, fensterlosen Asservatenraum. Meine Mitarbeiter sind alle in weiße Tyvek-Overalls vermummt und tragen Gesichtsschilde. Von Kopf bis Fuß sind sie in das gleiche wasserfeste und bakterienundurchlässige Gewebe aus Polyäthylen gehüllt, in das man auch Häuser, Firmengebäude, Boote, Autos und Poststücke verpackt. Die von weißen Kapuzen eingerahmten Gesichter hinter den Plastikscheiben sind kaum zu erkennen. Jede Bewegung erzeugt ein synthetisches Knistern.
Sie bauen Verdampfer für Zyanoacrylat-Klebstoff mit Belüftern und Luftbefeuchtern rings um den hellgelben Mercedes Baujahr 1995 auf. Türen und Kofferraumdeckel des Wagens stehen weit offen. Die Lichter im Raum sind gedämpft. Kriminaltechniker Ernie Koppel sucht den Fahrsitz mit einer alternierenden Lichtquelle ab. Während ich einen Overall und Handschuhe anziehe, frage ich ihn, was bis jetzt erledigt worden ist.
»Ich möchte das Auto gründlich unter die Lupe nehmen, bevor wir es bedampfen«, erwidert er. Wegen der Kapuze, die seine Glatze bedeckt, wirkt sein Gesicht noch pausbackiger, als es ohnehin schon ist. Zähne und Nase sehen überdimensional aus. »Wenn Sie selbst schauen wollen, sollten Sie die hier aufsetzen.« Wie immer reicht er mir eine
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