Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Reihe flüchtiger organischer Stoffe, mit denen man einen Menschen schachmatt setzen kann«, erwidert meine Cheftoxikologin. »Toluol, Tetrachlorkohlenstoff, 1 , 1 , 1 -Trichlorethan, Tetrachlorethen, Trichloräthylen. Die Dosis muss nur hoch genug sein.«
Ich lasse ihre Worte auf mich wirken. »Doch spannend ist das, was man praktisch umsetzen kann und was einem zur Verfügung steht. Was fällt dem Täter ein, und was kann er problemlos anwenden?«
»Im Grunde genommen lautet die Frage, was sich als Waffe verwenden lässt.«
»Genau«, entgegne ich. »Und ich glaube nicht, dass man, nur um ein Beispiel zu nennen, einen Lappen mit Verdünner oder Reinigungsflüssigkeit tränkt und ihn jemandem auf Mund und Nase drückt, wenn man will, dass er sofort das Bewusstsein verliert. Und man würde es auch bestimmt nicht aufs Geratewohl versuchen.«
»Diethyläther, Lachgas und Chloroform«, zählt sie die drei ältesten Narkosemittel auf. »Chloroform ist leicht zu beschaffen, wenn man in einer Branche, zum Beispiel in einem Labor, arbeitet, wo man es als Lösungsmittel benutzt. Leider ist es, wie inzwischen alle Welt weiß, auch möglich, es zu Hause herzustellen. Man braucht nur ein chlorhaltiges Bleichepulver und Aceton. Das Rezept dazu gibt es im Internet.«
Sie spielt auf einen medienwirksamen Fall an, über den vor kurzer Zeit alle Nachrichtensender berichtet haben. In einem Sensationsprozess in Florida wurde Casey Anthony von dem Vorwurf freigesprochen, ihre zweijährige Tochter Caylee ermordet zu haben. Laut der im Fernsehen übertragenen Zeugenaussagen war der Computer der Anthonys dazu verwendet worden, im Internet die Herstellung von Chloroform zu recherchieren. Außerdem hatte man Spuren davon im Kofferraum von Casey Anthonys Auto entdeckt. Das alles führte zwar nicht zu einer Verurteilung, ist aber durchaus dazu geeignet, in einem kranken Gehirn einen diabolischen Plan reifen zu lassen: Man geht einfach in den Drogeriemarkt, besorgt sich die Anweisung online und mischt in der Garage, in der Küche oder am Arbeitsplatz Chloroform zusammen, um Menschen zu überwältigen und umzubringen.
»Vielleicht setzt er sie erst schachmatt«, überlegt Phillis weiter, »und dann fährt er mit ihnen los. Vorher packt er sie in den Kofferraum, damit sie ihm keine Schwierigkeiten machen oder sich wehren, falls sie unterwegs zu sich kommen.«
»Er könnte auch ein Boot benutzen«, erwidere ich, als ich mich an die Informationen erinnere, die man mir gegeben hat.
Mildred Lott hatte Angst davor, dass ein Kidnapper oder ein Einbrecher mit einem Boot hinter der Villa in Gloucester anlegen könnte. Deshalb hat sie ihren Mann gebeten, den Bootssteg zu entfernen, was dieser wegen seiner Yacht abgelehnt hat. Wer, außer ihm und seinen wichtigsten Mitarbeitern, wusste von diesen Befürchtungen? Dem falschen Menschen gegenüber geäußert, hätten sie dieser Person gefährliche Flausen in den Kopf setzen können.
Verrate nie, wovor du Angst hast, sonst könnte ein böser Mensch es wahr werden lassen.
»Wahrscheinlich bringt uns das Gehirn am weitesten. Chloroform bindet sich an Proteine und Fette. Es infiltriert die Neuronen«, sage ich zu Phillis, während ich vom Schreibtisch aufstehe. Ich habe die beiden SUV bemerkt, die vor wenigen Sekunden von den Überwachungskameras aufgenommen wurden, als sie darauf warteten, dass das Tor sich öffnete.
Der schwarze GMC Yukon mit Channing Lott am Steuer biegt unten auf der Straße in östlicher Richtung ab. Vielleicht will er ja in seine Firmenzentrale in Bostons Marine Industrial Park. Ich finde es spannend, dass er mit seiner jungen, attraktiven Finanzchefin allein ist, während Galbraith in einem silberfarbenen Jeep in die entgegengesetzte Richtung nach Harvard fährt.
»Immer ausgehend davon, dass das Opfer nach der Anwendung des Betäubungsmittels nicht mehr lange am Leben gelassen wurde«, erklärt Phillis Jobe. »Zwei, drei Stunden, höchstens vier. Danach finden wir vermutlich nichts mehr.«
Am Leben gelassen wofür? Für einen Übergriff, der nicht körperlicher Natur war. Ich denke an Peggy Stantons unverdauten Mageninhalt und stelle mir vor, dass sie an jenem Abend im April irgendwo zu Abend gegessen hat. Auf dem Rückweg zum Auto wurde sie vermutlich überfallen und betäubt und dann, vielleicht sogar in ihrem eigenen Wagen, weggeschafft. Ich weiß nur, dass sie irgendwann einmal lange genug bei Bewusstsein gewesen sein muss, um sich die Fingernägel abzubrechen und in rot
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