Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
erledigen wird, weil wir dort nicht zuständig sind.
»Wir könnten Einspruch erheben, aber das werden wir bleiben lassen.« Briggs besitzt die Fähigkeit, Autorität so auszustrahlen, dass niemand daran zweifelt. »Wir werden keinen Kompetenzstreit in einem Fall anfangen, in dem wir Verbündete haben, die in der Lage sind, eine fachgerechte forensische Untersuchung durchzuführen. Schließlich haben wir es hier nicht mit Jonestown oder im Sudan ermordeten amerikanischen Missionaren zu tun. Also werden wir mit unseren kanadischen Freunden an einem Strang ziehen.«
Ich erkenne an den militärischen Plaketten und Flaggen auf den Regalen hinter ihm, dass er in seinem Büro in der Rechtsmedizin auf dem Luftwaffenstützpunkt in Dover sitzt. Er trägt einen OP -Anzug, weil er noch arbeiten muss. Heute Abend wird eine Flugzeugladung mit in Fahnen gehüllter Särge erwartet, was ich aus den Nachrichten weiß. Ein abgeschossener Hubschrauber. Schon wieder einer.
»Seine Aufgabe ist es, zu beobachten und zwischen denen und uns zu vermitteln«, sagt Briggs über den beratenden Rechtsmediziner des AFME aus Seattle.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, wende ich mich an meinen Monitor. Briggs sieht mich und die anderen an.
»Ich erkläre Ihnen die neuesten Entwicklungen, Kay.« Dann teilt er mir mit, dass Emma Shubert tot ist.
Ihre verwesende Leiche wurde keine sieben Kilometer entfernt von dem Campingplatz in Pipestone Creek gefunden, wo ihre Kollegen sie am Abend des 23 . August zuletzt gesehen haben. Dr. Ramon Lopez wird gerade nach Edmonton geflogen. Der Berater des AFME , der pensionierte Chief Medical Examiner von Seattle und ein Freund von mir, wird sich mit mir in Verbindung setzen, sobald er mehr weiß.
»Jugendliche, die Dinosaurierknochen gesucht haben«, teilt Briggs mir mit, was den anderen bereits bekannt ist. »Offenbar haben sie in einem Wäldchen neben dem Highway 43 herumgebuddelt und sind dabei auf einige Knöchelchen gestoßen. Zuerst dachten sie, sie hätten ein anderes Knochenbett gefunden, was in gewisser Weise ja stimmte. Nur dass diese Knochen nicht alt und versteinert waren. Kleine Menschenknochen von Händen und Füßen, vermutlich von Tieren verstreut. Dann ein menschlicher Schädel neben einem Haufen Geröll und ein übler Geruch.«
»Wann war das?« Noch einmal entschuldige ich mich dafür, dass er alles wiederholen muss.
»Gestern am späten Nachmittag. Der Hauptteil der Leiche lag unter einigen Steinen, die jemand offenbar darüber angehäuft hatte. Deshalb ist sie, wie Sie sehen können, nicht vollständig skelettiert.«
Briggs klickt eine Reihe von Fotos an, die groß und deutlich auf den Flachbildschirmen an den Wänden erscheinen. Kleine menschliche Knochen, Handwurzelknochen, Mittelhandknochen und Fingerknochen, die in dem ausgetrockneten, von Bäumen überwucherten Bachbett wie weiße und graue Steinchen aussehen. Dazu ein Schädel, unter einem Busch klemmend, als sei er dorthin gerollt oder von einem Tier verschleppt worden.
Am Rand des Gesteinshaufens klebt eine Schicht verfilzter graubrauner Haare. Das nächste Bild zeigt das nicht sehr tiefe Grab und die Leiche, wie sie aufgefunden wurde. Ein seitlich verkrümmter Körper in blauer Jacke und grauer Hose. Über die nicht von Kleidung geschützten Körperteile wie Kopf, Hände und Füße sind vermutlich Insekten und wilde Tiere hergefallen und haben sie abgetrennt und verstreut.
»Was ist mit Stiefeln oder Schuhen?«, frage ich.
»Davon steht nichts auf der Liste der Kleidungsstücke, die mir vorliegt.« Briggs tippt etwas auf seiner Tastatur, die ich nicht sehen kann, und setzt die Brille auf. »Eine blaue Regenjacke, eine graue Hose, BH , Slip, eine Uhr aus silbernem Metall an einem blauen Klettband, die sogar noch tickt, ob Sie es glauben oder nicht.«
»Keine Schuhe oder Socken«, stelle ich fest. »Interessant, denn Peggy Stanton muss irgendwann vor ihrem Tod auch barfuß gewesen sein.«
»Einschränkung der Gehfähigkeit«, merkt Benton an, und ich frage mich, wie lange er es schon weiß. »Damit sich das Opfer unterlegen und ausgeliefert fühlt.«
»Und nicht so leicht weglaufen kann«, sagt Douglas Burke zu ihm und zu niemandem sonst.
Ihr starrer Blick aus weit aufgerissenen Augen erinnert mich an den eines wilden Tiers, und zwar eines tollwütigen.
»Der Sommer im Nordwesten von Alberta war kühl und regnerisch«, fährt der höchstrangige Rechtsmediziner der Vereinigten Staaten fort, mich zu instruieren.
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