Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
es wohl wirklich nicht, Kay?« Zornig lief er im Zimmer auf und ab und öffnete die nächste Champagnerflasche. »So fängt es nämlich an.« Dabei konnte er mir nicht in die Augen sehen. »Der Neffe einer Freundin, du behandelst ihn wie ein Familienmitglied und gibst ihm einen Job, und als Nächstes …?« Er stürzte das halbe Glas Champagner in einem Schluck hinunter. »Er ist nicht Lucy. Und du beschützt ihn, als wärst du seine einzige Tante, so wie Anna. Und das macht dich dann faktisch zu seiner Mutter, so wie du faktisch Lucys Mutter bist, und dann …?«
»Und dann, Benton? Dann gehe ich mit ihm ins Bett? Ist das die logische Folge daraus, wenn ich junge Leute fördere und faktisch ihre Mutter bin?« Ich sparte mir den Zusatz, dass ich mit meiner Nichte schließlich auch nicht ins Bett gehe.
»Du stehst auf ihn. Du willst einen jüngeren Mann. Das passiert uns allen, wenn wir älter sind. Es kommt immer so, weil wir uns an unsere Jugend klammern, darum kämpfen oder sie uns zurückerobern wollen. Da liegt das Problem. Das wird immer so bleiben und wird mit den Jahren nur schlimmer. Und junge Männer stehen auf dich, weil sie mit dir angeben können.«
»Ich habe mich nie als Trophäe gesehen.«
»Vielleicht langweilst du dich ja auch.«
»Mit dir habe ich mich noch nie gelangweilt, Benton.«
»Ich habe nicht gesagt, dass du dich mit mir langweilst«, entgegnete Benton.
Auf dem Weg durch die mit beigem Kunstharzlack gestrichene Anlieferungszone, die die Größe eines kleinen Hangars hat, denke ich, wie so oft in der letzten Woche, daran, dass mich weder mein Beruf noch mein Leben langweilt. Benton auch nicht, das könnte er niemals. Es ist unmöglich, sich mit einem so vielschichtigen und stilvollen Mann zu langweilen, der mich schon immer so unglaublich fasziniert hat. Doch ganz besitzen werde ich ihn nie. Ein Teil von ihm wird mir stets verschlossen bleiben, ganz gleich, wie nah wir einander auch kommen mögen.
Allerdings stimmt es, dass ich auch andere anziehende Menschen wahrnehme. Und ich bemerke eindeutig, dass sie mich ebenfalls bemerken. Seit ich nicht mehr die Jüngste bin, ist dieses Bemerktwerden vielleicht wichtiger geworden. Doch es stimmt einfach nicht, dass ich mir dessen nicht bewusst bin. Das bin ich nämlich, und außerdem ist mir klar, dass eine Frau es in dieser Hinsicht verdammt noch mal schwerer hat, und zwar auf eine Art und Weise, die Männer niemals verstehen werden. Ich erinnere mich nur sehr ungern an unseren Streit, an dessen Ende Benton darauf beharrte, dass ich nicht ehrlich zu mir selbst bin.
Im nächsten Moment fällt mir ein, dass der einzige Mensch, dem ich mich völlig hätte öffnen können, ausgerechnet die indirekte Verursacherin des Problems ist: Anna Zenner, meine alte Vertraute, die mir von ihrem Neffen Luka – oder Luke, wie wir ihn nennen – erzählt hat. Er hat Österreich verlassen, um zuerst eine englische Privatschule zu besuchen und anschließend in Oxford und am King’s College der London School of Medicine zu studieren. Schließlich hat es ihn in die Staaten verschlagen, wo er in der Rechtsmedizin von Baltimore, einer der angesehensten Einrichtungen im Land, seine Facharztausbildung zum Forensiker abgeschlossen hat. Also verfügt er über die besten Qualifikationen und konnte zwischen vielen prestigeträchtigen Stellenangeboten auswählen. Ich hatte nie Schwierigkeiten mit ihm und begreife nicht, warum manche Leute sein Können anzweifeln oder annehmen, ich hätte ihn nur aus Gefälligkeit beschäftigt.
Das Rolltor zur Anlieferungszone steht offen, so dass durch die große quadratische Öffnung am anderen Ende der Betonfläche Asphalt und der klare blaue Himmel zu sehen sind. Autos und Transporter des CFC , alle weiß, schimmern in der herbstlichen Morgensonne. Der Parkplatz ist von einem mit schwarzem PVC ummantelten, klettersicheren Zaun umgeben. Dahinter ragen auf beiden Seiten, höher als mein mit Titan verkleidetes Institutsgebäude, die aus Backstein und Glas erbauten Labors des MIT empor, auf deren Dächern Satellitenschüsseln und Antennen prangen. Im Westen, unweit meines Hauses, liegen Harvard und das Priesterseminar. Natürlich versperrt mir die undurchsichtige schwarze Barriere, die die Welt von meinen Schutzbefohlenen trennt, meinen Patienten, die allesamt tot sind, die Sicht.
Als ich auf den Parkplatz trete, rumpelt ein weißer Chevy Tahoe auf mich zu. Die Luft ist kühl und klar wie Glas. Ich ziehe die Jacke an, froh, dass
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