Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Bryce meine heutige Garderobe ausgesucht hat. Nie hätte ich damit gerechnet, dass ich mich so schnell an einen Verwaltungschef gewöhnen könnte, der sich um meine Kleidung kümmert. Inzwischen gefällt mir das, obwohl ich mich anfangs dagegen gesträubt habe. Leider bemuttert er mich so, dass ich immer vergesslicher werde und all die kleinen unwichtigen Details vernachlässige, die er mir abnehmen kann. Doch er hat recht. Ich werde die Jacke brauchen, weil es auf dem Boot sicher kalt wird. Außerdem stehen die Chancen, dass ich nass werden könnte, ziemlich hoch. Wenn jemand ins Wasser muss, dann ich. Davon bin ich mittlerweile überzeugt.
Aber zuerst muss ich darauf bestehen, mir ein genaues Bild von der Lage zu machen, und zudem dafür sorgen, dass angemessen mit diesem Todesfall umgegangen wird. Das heißt, korrekt, respektvoll, streng nach Vorschrift und so, dass kein Raum für juristische Anfechtungen bleibt, denn diese Möglichkeit besteht immer. Marino kann mir dabei helfen oder auch nicht. Andererseits ist er kein Taucher. Außerdem hält er es in einem Neopren- oder Taucheranzug nicht aus, weil er darin Beklemmungen bekommt. Schwimmen kann er auch nicht sehr gut. Also soll er an Bord warten, während ich die Sache allein in Angriff nehme. Ich habe nämlich nicht vor, mich mit ihm oder sonst jemandem herumzustreiten. Inzwischen bin ich das Hickhack und die ständige Angst, dass schon das kleinste Wort falsch verstanden werden könnte, gründlich leid. Als ob ich eine Affäre mit Anna Zenners Neffe anfangen würde! Selbst wenn ich Single wäre, würde Luke viel besser zu Lucy passen, würde sie sich denn fürs andere Geschlecht interessieren.
Ich bin nicht Lukes Mutter, und was mich an Bentons Vorwurf wirklich bis ins Mark gekränkt hat, ist die Andeutung, dass ich alt bin.
So alt wie die Eurostile-Schrift, das Relikt einer anderen Ära, der Fünfziger und Sechziger, an die ich mich kaum noch erinnern kann. Dass dort meine Wurzeln liegen, will ich eigentlich nicht glauben.
Bentons Anspielung hat eine chronisch schmerzende Wunde in meinem Inneren gerissen, das niederschmetternde Gefühl, beschädigt zu sein, und zwar ohne es zu ahnen, bis er mir in Wien zornig diese Worte entgegengeschleudert hat. Seitdem nehme ich mich anders wahr, und ich bin nicht sicher, ob ich je über diese Verletzung hinwegkommen werde.
Sechs
Ich öffne die Klappe der biometrischen Schließanlage an der Seite des Gebäudes und berühre den Glasscanner leicht mit dem Daumen. Der Drehmomentmotor springt an, und die Stahlketten lassen das eine halbe Tonne schwere unterteilte Rolltor vor der Anlieferungszone mit einem lauten Rattern herunterfahren.
»Die Küstenwache müsste Taucheranzüge haben«, sage ich zu Marino, während ich auf dem Beifahrersitz des Tahoe Platz nehme. Wieder einmal typisch für ihn.
Er hat einen Wagen genommen, der frisch gewaschen und aufgetankt war, vermutlich das, was Luke Zenner beobachtet hat, als er meldete, dass Marino die verschiedenen Fahrzeuge auf dem Parkplatz in Augenschein nimmt. Der angenehme Duft von Cockpitspray steigt mir in die Nase, und ich stelle fest, dass das Armaturenbrett blitzblank und der Bodenbelag fleckenlos ist. Marino hat eine Schwäche für V 8 -Motoren, je größer und lauter das Auto, desto besser. Ich muss daran denken, wie sehr er die neue Flotte von SUV verabscheut, die ich ausgesucht habe, Toyota Sequoia, spritsparend und praktisch, Alltagsautos, weil ich niemandem etwas beweisen muss.
»Wir haben immer ein paar in den Spinden. Ich achte darauf, dass jedes mobile Labor einen an Bord hat«, erinnert Marino mich daran, wie tüchtig er ist. Ich ahne, dass mir ein unangenehmes Gespräch bevorsteht. »Hinten sind zwei Stück, ich habe nachgeschaut.«
»Sehr gut.« Ich schnalle mich an und suche meine Sonnenbrille, während er zurücksetzt. »Aber hoffentlich sind die von der Küstenwache besser als unsere, wozu nicht viel gehört. Unsere sind nämlich eine ziemliche Katastrophe und nur für kurze Such- und Bergungsmaßnahmen geeignet, nicht für das Sicherstellen von Beweismitteln. Aus Regierungsbeständen«, schimpft Marino weiter. Offenbar hat er etwas auf dem Herzen.
Das merke ich ihm immer an.
»Mist, den das Ministerium für Heimatschutz oder das Verteidigungsministerium für ein Butterbrot gekauft hat. Und dann können sie das Zeug nicht gebrauchen und reichen es nach unten durch«, fährt er fort. »So wie die Kartons für Organproben, auf denen
Fischköder
stand.
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