Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Taucherplattform und umspülen meine Füße. Das Rattern der Hubschrauberrotoren ist zwar weit entfernt, aber gnadenlos. Außerdem dringt die Kälte des Wassers durch meine in Tyvek gehüllten Stiefel, als ich mich Pamela Quick nähere. Offenbar ist sie sehr beschäftigt und hat keine große Lust auf meine Gesellschaft.
Ich schätze sie auf Mitte bis Ende dreißig. Außerdem ist sie mit ihren großen grauen Augen, dem markanten Kinn, dem verkniffenen Mund und dem unter einer Mütze zusammengefassten langen hellblonden Haar auf einschüchternde Weise hübsch. Für jemanden, der im Alltag mit gewaltigen Ungetümen zu tun hat, ist sie erstaunlich klein und zierlich. Lässig wie eine Profisurferin steht sie auf der schaukelnden Plattform und entleert den Inhalt einer Spritze in ein Blutentnahmeröhrchen mit grünem Verschluss, dem Heparin beigefügt ist, um Blutgerinnsel zu vermeiden.
»Ich bin Dr. Scarpetta«, erinnere ich sie daran, dass wir heute bereits kurz miteinander telefoniert haben. »Ich brauche nur ein paar Informationen und muss ihn mir rasch ansehen, dann lasse ich Sie in Ruhe.«
»Ich kann Ihnen nicht gestatten, ihn zu untersuchen.« Sie ist forsch und genauso kühl wie Wasser und Wind. »Er steht schon genug unter Stress, und das ist im Moment die größte Gefahr. Stress.« Das sagt sie mit so viel Nachdruck, als wäre ich persönlich schuld daran. »Diese Tiere sind es nicht gewöhnt, sich außerhalb des Wassers aufzuhalten und von Menschen berührt zu werden. Stress bringt sie um. Ich schicke Ihnen meinen Bericht. Damit müssten alle Ihre Fragen beantwortet sein.«
»Ich verstehe, und ich würde mich wirklich über eine Kopie Ihres Berichts freuen«, entgegne ich. »Aber es ist wichtig, dass ich alles erfahre, was Sie mir jetzt gleich sagen können.«
Sie zieht die Nadel aus dem Gummideckel. »Die Wassertemperatur beträgt elf Grad Celsius, die Lufttemperatur fünfzehn«, verkündet sie.
»Was können Sie mir über ihn erzählen?« Beharrlichkeit ist meine einzige Chance.
»Über ihn?«
Sie bedenkt mich mit einem Blick, als hätte ich sie beleidigt. »Nichts, was für Ihre Zwecke interessant wäre.«
»Im Moment interessiert mich alles. Er könnte Teil eines Tatorts sein.«
»Er ist eine stark gefährdete Schildkröte und wäre beinahe wegen menschlicher Achtlosigkeit und Ignoranz gestorben.«
»Ich gehöre nicht zu diesen achtlosen und ignoranten Menschen.« Ich habe Verständnis für ihre feindselige Haltung. »Mir liegt ebenso viel an seinem Wohlergehen wie Ihnen.«
Sie sieht mich nur zornig und herablassend an.
»Dann also los«, fahre ich fort. »Erzählen Sie mir, was Sie wissen.«
Sie schweigt.
»Ich bin nicht diejenige, die hier Zeit verschwendet«, füge ich spitz hinzu.
»Herzfrequenz sechsunddreißig, Atemfrequenz zwei. Beides laut Doppler«, erwidert sie. »Kloakentemperatur vierundzwanzig Grad.« Sie träufelt Blut in eine i- STAT -Analysekartusche aus weißem Plastik.
»Ist es nicht ungewöhnlich, dass seine Körpertemperatur doppelt so hoch ist wie die des Wassers?«
»Lederschildkröten sind gigantothermisch.«
»Was heißt, dass sie ihre Grundtemperatur unabhängig von der Außentemperatur aufrechterhalten können«, entgegne ich. »Das ist bemerkenswert, ich hätte das nicht gedacht.«
»Wie Dinosaurier können sie sowohl in tropisch warmem Wasser als auch bei Temperaturen überleben, die so niedrig sind, dass ein Mensch innerhalb weniger Minuten sterben würde.«
»Das widerspricht allem, was ich über Reptilien weiß.« Ich kauere mich neben sie auf das schwankende Deck. Wasser plätschert.
»Die Physiologie von Reptilien kann die biologische Beschaffenheit eines Dinosauriers nicht erklären.«
»Sie bezeichnen ihn wirklich als Dinosaurier?« Ich bin verwundert und außerdem an diesem so merkwürdig begonnenen Tag auch ein wenig beunruhigt.
»Ein gewaltiges Reptil, das es schon seit mehr als fünfundsechzig Millionen Jahren gibt, der letzte lebende Dinosaurier auf dieser Erde.« Sie verhält sich weiterhin, als hätte ich etwas verbrochen. »Und der heute vom Aussterben bedroht ist.«
Sie schiebt die Kartusche in ein tragbares Blut-Analysegerät, während eiskaltes Wasser über die Plattform schwappt, die Hosenbeine meines Overalls durchweicht und in meine Hose darunter einsickert.
»Angelausrüstung, unwissende Menschen, die die Eier ausgraben, Wilderei, Schnellboote und Plastikmüll«, spricht sie mit unverhohlenem Abscheu weiter. »Mindestens ein Drittel
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