Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
aller Lederschildkröten hat Plastik im Magen. Und dabei haben sie uns überhaupt nichts getan. Sie wollen nichts weiter als schwimmen, Quallen fressen und sich fortpflanzen.«
Die Lederschildkröte hebt langsam den Kopf von der Größe einer Wassermelone und sieht mir ins Gesicht, wie um die Worte ihrer Retterin zu untermauern. Nüstern blähen sich, als das Tier lautstark ausatmet. Es hat hervortretende dunkle Augen und dazwischen ein schnabelähnliches Maul, das mich an das schiefe Grinsen einer Kürbislaterne erinnert.
»Ich verstehe Ihre Gefühle viel besser, als Sie ahnen, und ich will Sie auch nicht lange aufhalten«, sage ich zu Pamela Quick. »Aber vorher muss ich wissen, was er für Verletzungen hat.«
»Leichte Abschürfungen neben dem Übergang von Panzer zu Haut an der linken Schulter, die sich etwa drei Zentimeter am distalen vorderen Rand der linken Vorderflosse hinzieht«, rattert sie in abweisendem Ton herunter. »Es besteht ein Zusammenhang mit einer anderen Abschürfung an der distalen Vorderflanke.« Sie liest die Ergebnisse des Bluttests von der Digitalanzeige ab.
»Und seine Werte?«, frage ich.
»Typisch für Lederschildkröten, die sich in Leinen verheddert haben. Eine leichte Hypernatriämie, doch davon müsste er sich erholen. Außer er kommt wieder mit Müll oder einem Boot in Kontakt, das ihn umbringt.«
»Ich verstehe wirklich, wie Sie sich fühlen …«
»Das tun Sie ganz sicher nicht«, entgegnet sie.
»Ich muss Sie fragen, ob Sie die Angelschnüre aufbewahrt haben.«
»Die gebe ich Ihnen gern.« Sie greift in eine Skihülle.
»Können Sie auf der Grundlage Ihrer Erfahrung rekonstruieren, was hier geschehen ist?«
»Das Gleiche wie immer bei diesen Tieren«, antwortet sie. »Sie geraten mit einer vertikalen Schnur in Konflikt und wirbeln in ihrer Panik so lange im Kreis herum, bis sie sich darin verheddert haben. Je heftiger sie sich wehren, desto mehr zieht sich die Schlinge zu. Und der hier musste außerdem eine beschwerte Reuse und eine Leiche Gott weiß wie weit mit sich herumschleppen.«
»Und die Boje.«
»Ja, die auch noch.« Sie reicht mir einen durchsichtigen Plastikbeutel, der eine verwickelte monofile Angelschnur, einige Vorfächer und rostige Haken enthält.
»Woraus schließen Sie, dass Reuse und Leiche mitgeschleppt wurden? Offenbar gehen Sie davon aus, dass sie sich ursprünglich nicht an ihrem derzeitigen Platz befunden haben. Gibt es irgendeinen Grund, anzunehmen, dass er sich nicht hier an Ort und Stelle verheddert hat?« Ich beschrifte den Beutel mit einem Markierstift.
»Lederschildkröten sind ständig in Bewegung«, erwidert sie. »Die Schnur hatte sich vermutlich mit dem Bojentau verknotet. Jedenfalls steht fest, dass er an die Angelschnüre geraten ist, die sich dann um seine linke Flosse gewickelt haben. Allerdings ist er darauf programmiert, immer weiterzuschwimmen. Und je weiter er geschwommen ist, desto enger wurde die Schlinge. Als wir ihn gefunden haben, konnte er die Flosse kaum noch bewegen und drohte zu versinken.«
»Gibt es Schätzungen darüber, wie schnell Lederschildkröten schwimmen können?«, erkundige ich mich.
»Dieses Gespräch können wir auch später führen.« Sie würdigt mich kaum eines Blicks.
»Es ist wirklich wichtig, dass ich jetzt sofort sämtliche Informationen bekomme«, beharre ich. »Sie könnten uns helfen, zu ermitteln, wo die Leiche ins Wasser geworfen wurde.«
»Diese Person ist tot. Er nicht.«
»Es könnte sich um einen Mordfall handeln. Also würde ich Ihnen nicht empfehlen, die Ermittlungen zu behindern.«
»Ich kann dazu nur sagen, das eine Lederschildkröte eine Höchstgeschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern erreicht«, gibt sie barsch zurück. »Doch mit dieser Last hat er das nicht annähernd geschafft. Also ist es unmöglich, festzustellen, wo er sich in die Schnur verheddert hat. Allerdings ist er anschließend sicher nicht mehr weit gekommen. Höchstens ein paar Kilometer, bevor ihn die Kräfte verlassen haben und das Gewicht ihn nach unten zog, bis er kaum noch den Kopf über Wasser halten konnte.«
»Er hat sich doch sicher nicht auf dem offenen Meer in diese Schnur verheddert.« Ich betrachte den Horizont, wo eine etwa hundert Kilometer lange Reihe von Buchten, Halbinseln und Inseln den Außenhafen vom Atlantik trennt. »Das ist zu weit.«
»Absolut unmöglich«, stimmt sie zu. »Nach seinen Verletzungen und seinem guten Allgemeinzustand zu urteilen, waren es schätzungsweise nur
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