Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
erwidere ich. »Ich kann nicht garantieren, dass ich es schaffe, sie festzuhalten. Und dann könnte das Gewicht an ihren Füßen sie nach unten ziehen, bevor wir sie zu fassen kriegen. Irgendwie müssen wir das Seil um ihren Hals sichern, ohne die Leiche zu beschädigen«, wende ich mich an Marino, während ich weiter Wasser trete.
»Wir beide müssen sie vorsichtig an Bord hieven, und zwar absolut gleichzeitig, in der Hoffnung, dass sie nicht zerfällt«, fahre ich fort. »Ich hole sie nah genug heran, damit du das Tau mit dem Haken fassen kannst. Aber zerr bloß nicht daran. Du sollst nicht an ihr ziehen, sondern an mir. Ich achte darauf, dass das Seil um ihren Hals so viel Spiel wie möglich hat. Schnall den Korb an und lass ihn runter, und dann zieh vorsichtig an mir, nicht an ihr«, wiederhole ich. Ich spüre, wie sich das Seil zwischen meinen Schulterblättern strafft.
Der mit zwei offenen schwarzen Leichensäcken ausgekleidete Rettungskorb wird heruntergelassen. Ich führe den Haken, bis Marino das Bojentau erfasst hat. Als er es näher ans Boot heranholt und danach greift, sind plötzlich ihre Hände mit den lackierten Nägeln dicht unterhalb der Wasserfläche zu sehen. Ihr weißes Haar treibt nach oben, und für einen kurzen Moment erscheint ihr Gesicht in einem Wellental.
Elf
»Pass auf!«, rufe ich Marino zu. »Ruhig halten! Ruhig halten! Nicht ziehen.« Ich schiebe die Taucherbrille hoch. »Halt einfach nur die Leine und überlass den Rest mir.«
Ihr fauliger Verwesungsgeruch steigt mir in die Nase. Ich fasse sie unter den Armen, kehre dem Boot den Rücken zu und stütze sie von hinten.
»Halt das Tau so locker wie möglich«, weise ich ihn an und schiebe die rechte Schulter unter das gelbe Bojentau, um es zu entlasten, damit es nicht zu viel Spannung um ihren Hals hat. »Hol mich ganz langsam ran, während ich mit ihr schwimme. Zieh an mir, nicht an ihr.«
Ich spüre den Ruck oben an meinem Rücken und das Gewicht des Gegenstands, der an dem Seil um ihre Knöchel hängt. Sie ist kalt, mindestens so kalt wie das Wasser. Ihre Haut ist verschrumpelt und hart. Die Arme sind zwar verhältnismäßig beweglich, doch ihr restlicher Körper ist steif vor Kälte. Die Leichenstarre ist schon vor Wochen, wenn nicht gar Monaten, abgeklungen, während sie an einem sehr trockenen und kalten Ort aufbewahrt worden ist.
Nach dem Aufwärmen wird mir die Tote nicht die üblichen Hinweise darauf geben, wann und wo sie gestorben ist, und auch nicht auf ihre Körperhaltung, denn dafür ist es viel zu spät. Mehr als das, was ich jetzt vor Augen habe, werde ich nicht zu sehen bekommen. Und außerdem wird ihr gekühlter und gut erhaltener Zustand rasch in Verwesung übergehen.
Durch das nasse weiße Haar ist fahle Kopfhaut zu sehen. Ohren und Nasenspitze sind braun verfärbt, Gesicht und Hals von weißem Schimmel besiedelt. Sie ist schon so lange tot, dass die Mumifizierung eingesetzt hat, was heißt, dass sie eine Weile aufbewahrt worden ist, bevor man sie im Wasser entsorgt hat. Ganz langsam schiebe ich ihren Scheitel unter mein Kinn und versuche mein Bestes, damit sie nicht zerfällt. Das Bojentau stütze ich weiter mit der Schulter und spüre, wie es rau an meinem Kiefer schabt.
Ich bemühe mich nach Kräften, zu verhindern, dass der Fender, der wie ein dicker gelber Fisch träge vor uns auf den Wellen tanzt, zu heftig an ihr zerrt. Endlich erreichen wir den Rettungskorb, der neben dem Boot treibt. Ich drehe uns beide zu den Männern um und weise Marino an, das Seil ruhig zu halten, damit die Leiche dicht an der Oberfläche bleibt. Dann bitte ich Sullivan und Kletty, den Seilen am Geschirr des Korbes und hinten an meinem Taucheranzug mehr Spiel zu geben.
»Ich muss den Korb unter sie schieben. Dazu muss sie so weit wie möglich an die Oberfläche, damit ich den Korb nach unten drücken kann.« Ich spucke aus, weil mir die Wellen ins Gesicht schlagen und in Mund und Nase schwappen. »Aber zuerst müssen wir die Muschelreuse hochholen und das Seil entfernen, um weitere Schäden zu verhindern. Sonst kann ich sie nicht bewegen.«
Ich atme tief ein, setze die Taucherbrille wieder auf, tauche unter die Leiche und packe das Seil, das sie mit dem schweren Ballast irgendwo tief in der Bucht verbindet. Eine dunkle Jacke und eine Bluse blähen sich von der Taille aufwärts, ein grauer Rock umweht ihre Hüften und gibt ein Höschen und nackte Beine frei. Sie sind blass und mager und schwanken in der Strömung. Die gelbe
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