Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
beobachte, wie er in der Ferne verschwindet, während das Geräusch immer leiser wird, und warte ab, ob er Kurs auf den Logan Airport nimmt. Aber nein. Er steuert weiter auf die Stadt und den Charles River zu, bis ich ihn aus den Augen verliere.
»Was ist mit dem restlichen Zeug?« Ich weise auf das Gewirr aus Angelschnüren, Schwimmern, Wirbeln und Haken, alles braun und verrostet. »Meinst du, das gehört zu derselben Ausrüstung, in die sich die Schildkröte verheddert hatte?«
»Sieht ganz danach aus. Eine handelsübliche Grundleine.«
Er fügt hinzu, eine Grundleine sei eine lange, horizontale Schnur, an der vertikale Schnüre mit schwenkbaren Wirbeln befestigt werden, nach der Krümmung der Haken zu urteilen, hier vermutlich für den Fang von Makrelen. Die Bambusstange dient offenbar der Markierung.
»Siehst du das Stück Metallschrott am Ende?«, erklärt er. »So hält man es aufrecht im Wasser. Wahrscheinlich waren irgendwann auch noch ein Bündel Korken und eine Fahne daran befestigt.«
Die Sachen sind offenbar ziemlich alt und können von überall her angetrieben worden sein. Er nimmt an, die Schildkröte sei daran gestoßen, habe sich in einige Schnüre verwickelt und dann das Knäuel eine Weile mitgeschleppt, bis sie sich auch noch ins Bojentau verfangen habe.
»Vielleicht ist er gerade getaucht oder zum Atmen nach oben gekommen, als der Käfig und die Leiche ins Wasser geworfen wurden, und so hat sich alles miteinander verknotet«, fügt er hinzu.
Ich bitte ihn, mir ein Vergrößerungsglas aus dem Tatortkoffer zu holen und mir ein Paar Handschuhe zu geben. Dann begutachte ich jeden Zentimeter des Käfigs und die durchweichten Katzenstreusäcke darin. Die Bambusstange ist etwa eins fünfzig lang. Das obere Ende ist erst vor kurzem abgebrochen, was ich daraus schließe, dass der zersplitterte Rand, anders als der Rest, nicht verwittert ist. Die Stange durchbohrt den Käfig in einem Winkel von dreißig Grad von oben und tritt durch die Schiebetür wieder aus. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das passiert sein könnte.
Ich nehme an, dass jemand den mit Katzenstreu beschwerten Käfig, die gefesselte Leiche und den Fender über Bord geworfen hat. Der Käfig ist sofort versunken, während der Fender auf dem Wasser trieb und die Leiche aufrecht hielt, etwa so, wie ich sie gefunden habe. Doch wie hat sich der Zusammenstoß mit der Grundleinenkonstruktion ereignet und wann?
Vielleicht hat Marino ja recht. Die Lederschildkröte hat die Angelausrüstung mitgeschleppt und ist genau in dem Moment zum Atmen aufgetaucht, als Käfig und Leiche im Wasser landeten. Ich betrachte die frei liegenden Enden der Stange durch vergrößernde Acryllinsen und erkenne dieselbe gelblich grüne Farbe. Es ist ein winziger Schmierer am abgebrochenen Ende, das aus dem Käfigdeckel ragt.
Ich gebe Anweisung, Käfig, Fender und Schnurkonstruktion an Ort und Stelle zu fotografieren. Anschließend werden wir alles in großen Plastiktüten verstauen und in mein Institut bringen.
»Lass uns sichergehen, dass Toby uns mit dem Transporter erwartet«, sage ich zu Marino, während ich den Taucheranzug öffne und mir die Manschetten über Kopf und Handgelenke streife. »Sie muss so rasch wie möglich ins Institut geschafft werden, weil sie jetzt, da sie nicht mehr im Wasser ist, sehr schnell verwesen wird. Ich weiß nicht, ob sie eingefroren war, aber das könnte der Fall sein.«
»Eingefroren?« Labella verzieht das Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich. »Eingefroren oder stark gekühlt. Diese Frau ist schon seit einer geraumen Weile tot, und ich habe den Verdacht, dass wir sie erst finden und dann sofort wieder verlieren sollten. Vermutlich steckt die Absicht dahinter, uns so richtig eins auszuwischen. Sie wurde verschnürt und über Bord geworfen, damit sie geköpft, also gewissermaßen gestreckt und gevierteilt wird, während wir versuchen, sie zu bergen. Eine verstümmelte Leiche, die uns aus den Händen rutscht und in der Tiefe verschwindet«, erkläre ich. Dabei spreche ich nicht mit der Toten, sondern mit dem Menschen, der sie auf dem Gewissen hat. »Aber jetzt haben wir sie und deshalb hoffentlich viel mehr in der Hand, als sich da jemand gedacht hat.«
Ich öffne die Leichensäcke nur lange genug, um die Enden der Seile, mit denen die Tote verschnürt ist, zu kennzeichnen. Dann kehre ich zurück in die Kabine, erleichtert, endlich aus Wind und zunehmender Kälte herauszukommen. Ich spare mir die Mühe, meine
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