Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
zusammenfallen.«
Damit spielt er auf die berüchtigten Kapriolen von Jill Donoghue an. Soweit ich weiß, bin ich die letzte Zeugin, die die Verteidigung aufrufen wird, bevor sie die Beweisaufnahme in diesem medienwirksamen Sensationsprozess abschließt.
»Du musst zugeben, dass der Zeitpunkt auffällig ist. Ich finde ihn sogar verdammt besorgniserregend«, fährt er fort. »Ich kann nicht ausschließen, dass es Absicht war.«
»Channing Lott sitzt im Gefängnis«, erinnere ich ihn. »Und zwar seit April. Und es ist
nicht
seine vermisste Frau«, betone ich noch einmal. »Sondern eine Fremde.«
Zwölf
Als wir die Longfellow Bridge erreichen, die Boston mit Cambridge verbindet, ist es drei Minuten nach eins.
Die Sportplätze und Gebäude des MIT auf der anderen Seite haben ihren Charme verloren und sich in quadratische Gebilde aus mattem Gras, dunklen Backsteinen und fahlem Sandstein verwandelt, über denen eine dicke, graue Wolkendecke hängt wie eine Plane. Die Bäume sind in Erwartung des Herbstes von einem Tag auf den anderen zu Skeletten geworden, als hätten sie vor Verzweiflung die Blätter abgeworfen. Der Charles River wird von einem böigen Wind aufgepeitscht, der meine eigene aufgewühlte Stimmung widerspiegelt.
Wieder lese ich die SMS , obwohl eigentlich nicht damit zu rechnen ist, dass sich etwas an ihrem Inhalt geändert hat.
Sitzung hat nach der Mittagspause gerade wieder angefangen. Termin um 2 steht noch. Sorry – DS .
Ich erspare mir die Antwort. Denn Dan Steward ist der Staatsanwalt, der zum Teil, oder vielleicht sogar hauptsächlich, die Schuld daran trägt, dass ich überhaupt vor Gericht gezerrt werde, und zwar zu einem Zeitpunkt, wie er nicht ungünstiger, und aus einem Grund, wie er nicht lachhafter sein könnte.
Von nun an werde ich nur noch telefonisch oder persönlich mit ihm kommunizieren. Niemals wieder schriftlich, das habe ich mir fest vorgenommen. Ich kann es noch immer nicht fassen. Es ist ein Fiasko. Ich denke an die Schlagzeilen, doch vor allem mache ich mir Sorgen um die Tote hinter uns im Transporter. Sie hat ein Recht darauf, dass ich ihr jetzt sofort meine ganze Aufmerksamkeit widme, und wird sie trotzdem nicht bekommen. Ich finde das einfach nur skandalös.
»Bis jetzt habe ich immer
vor
dem Mikroskop gesessen«, sage ich zu Marino. »Und nun sitze ich darunter, und jede Einzelheit wird überprüft und bewertet. Ich weiß nicht, wo wir anfangen sollen.« Ich stecke das Telefon wieder in die Jackentasche.
»Da geht es mir nicht anders. Ich habe keine Ahnung, wen ich zuerst anrufen soll. Ich werde einen Teufel tun und mich an die Anweisung der Küstenwache halten, mich umgehend an das FBI zu wenden und ihm den Fall auf einem silbernen Tablett zu überreichen, nur weil es dem Ministerium für Heimatschutz so gefällt.« Er redet ohne Punkt und Komma, und zwar über ein völlig anderes Thema. »Dieses Zuständigkeitsgewichse. Herrgott, da könnten sich noch mindestens sechs andere Behörden dranhängen wollen.«
»Oder auch nicht. Das halte ich für wahrscheinlicher.«
Gewichse
scheint sein neues Lieblingswort zu sein, vermutlich hat er es von Lucy, auch wenn das nicht mehr genau festzustellen ist.
»Das FBI wird den Fall an sich reißen, weil er Schlagzeilen machen wird. Die Medien werden sich darauf stürzen, vielleicht sogar landesweit. Eine reiche alte Dame, an einen Hundekäfig gefesselt und im Meer versenkt. Mutmaßlich Mildred Lott. Und wenn herauskommt, dass sie es doch nicht ist, wird es eine noch größere Sensation.«
»Eine reiche alte Dame?«
»Könntest du die bitte mal halten?« Er reicht mir seine Ray-Ban. »Dieses Mistwetter. Ich muss zum Augenarzt, ich seh ja überhaupt nichts mehr. Anscheinend brauch ich eine richtige Lesebrille, nicht mehr eins von diesen rezeptfreien Dingern. Inzwischen ist meine Fernsicht auch zum Teufel.« Beim Fahren späht er angestrengt geradeaus. »Das kotzt mich an. Alles ist total verschwommen. Habe vergessen, wie die Scheiße heißt. Presbyphobie?«
»Presbyopie. Alterssichtigkeit.«
»Herrgott, alles ist undeutlich. Ich fühle mich wie Mister Magoo.«
»Warum glaubst du, dass sie reich ist? Wie kommst du darauf?« Ich lege die Sonnenbrille auf meinen Schoß und stelle das Gebläse auf meiner Seite richtig ein, während wir uns durch den dichten Verkehr über die Brücke quälen. »Und woher weißt du, dass sie alt ist?«
»Sie hat weiße Haare.«
»Oder blondierte. Sie könnten gefärbt sein. Das muss ich mir
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