Knochenbrecher (German Edition)
einverstanden, ganz zu schweigen von dem Pils, dem er nicht länger hatte widerstehen können. Nicht zum ersten Mal war der alte Ysker seine Rettung gewesen. Greven war sich sicher, dass der über Achtzigjährige kaum mehr zubereiten konnte als Fisch und friesische Hausmannskost. Das aber konnte er. Die Zunge war auf den Punkt, die Bräunung perfekt.
»Ik heb noch een.« Der alte Ysker kam mit der Pfanne an den Tisch, auf dem ein Wachstuch mit einem grauenhaften Muster lag. Die Gabel mit ihren abgenutzten und verschieden langen Zinken, das abgewetzte Messer und der stumpfe Teller hätten in der Gastronomie nicht den Hauch einer Überlebenschance gehabt. Dafür zählte sich Greven nach der dritten Seezunge zu den Überlebenden. Sein Magen machte zwar noch immer Geräusche, allerdings ganz andere als vorhin im Hohen Haus . Als er auch noch den Mut aufbrachte, das dritte Pils dankend abzulehnen, fühlte er sich wie neugeboren. Nicht einmal die eisgekühlte Flasche Aquavit, die der alte Fischer aus einem Nebenraum holte, um ein Schnapsglas mit Goldrand zu füllen, konnte ihm etwas anhaben. Ysker leerte es in einem Zug und füllte es erneut, bevor er die Flasche wieder zurückbrachte.
»Warst du eigentlich mal bei Tante Hedda?«, fragte Greven, als sich sein Gastgeber zu ihm setzte.
»Nee, Hedda was een leve Nahberske, aber en Töverhex«, war das eindeutige Urteil des alten Ysker, dem er nichts hinzuzufügen hatte. Außer einem nicht weniger wohlwollenden Urteil über die Ärzteschaft: »De weten ok ne all und verschrieben ok ne immer de rechten Pillen. Und de mesten hebben sowieso keen Wirkung oder de verkehrte, und du büst in’t Mors. Am besten, du brukst overhoopt keen Dokter. Denn geiht di dat good. Und Knakenbrekers sind de schlimmsten van all.«
»Dann warst du bestimmt auch noch nicht bei Dr. Weygand?«
»Uns neei Dokter? Holl mi up mit de Kerl. De is blot an proten und geiht an as ’n Meester.«
»Wie lange ist der eigentlich schon in Greetsiel?«, fragte Greven mit halbvollem Mund und stippte das letzte Kartoffelstück in das fast leere Butterpfännchen. Von den Seezungen waren nur noch die typischen Gräten übrig, die wie Kämme auf dem Teller ineinander steckten.
»Dat sünd nu bold dree Johr«, antwortete der alte Ysker.
Greven half dem Kutterkapitän noch beim Abwasch, dann wollte er zurück nach Aurich fahren. Er kam gerade einmal bis zur Sielmauer am Hafen, dessen Lichter ihn auf die Uhr schauen ließen. Die Luft war ausgesprochen mild, fast sommerlich, die Kakophonie der Hochsaison war abgeklungen. Statt tausend Stimmen, Fahrradglocken und Autos waren nun wieder Möwen und andere Seevögel zu hören. Nur sechs Kutter lagen im Hafen, dafür waren aus den drei Plattbodenschiffen zwei geworden. Einer der holländischen Ewer fehlte. Bis 1991 hatten Ebbe und Flut das Leben im Hafen bestimmt, dann hatte das neu gebaute Leysiel die Tiden für immer ausgesperrt. Von der Sielmauer beobachtete Greven die kaum vorhandenen Bewegungen des Wasserspiegels. Der Schlick, der hier lange Zeit das Siel verstopft und unpassierbar gemacht hatte, war ausgebaggert worden. Und mit ihm die Geschichten über ihn. Denn die waren keineswegs ein Privileg des Hexenhauses.
Unmittelbar vor der Sturmflut im Februar 1962 sollte ein dorfbekannter Trinker bei Ebbe in den Hafen gestürzt und vom bodenlosen Schlick verschlungen worden sein. Niemand habe dem schreienden und um sich greifenden Opfer helfen können, das schließlich spurlos in dem zähen und unnachgiebigen Grau verschwunden sei. Die Sturmflut habe dann die Feuerwehr daran gehindert, den Leichnam zu bergen. Erst zwei Wochen nach dem tragischen Unfall hätten angeleinte Freiwillige versucht, den Toten mit Schaufeln und bloßen Händen aus dem Schlick zu graben. Doch immer wieder habe die Flut das amorphe Grab mit frischen Sedimenten zugedeckt. Selbst mit einem Bagger des Bauunternehmens Holzkämper habe man die Leiche nicht bergen können. Der Grund für diesen Misserfolg sei die Grundlosigkeit des Schlicks gewesen, der jeden Gegenstand und somit auch jeden Körper, der einmal in ihn hineingefallen war, immer tiefer in sich hineinzog. So hatten die Bergungsarbeiten schließlich eingestellt werden müssen, da der Aufwand, das halbe Hafenbecken metertief auszuheben, weder durchführbar noch bezahlbar gewesen sei. Der Tote, so die Pointe der Geschichte, ruhe also noch immer an jener Stelle, an der er in den Hafen hineingestürzt sei. Begraben unter Tonnen von Schlick, der
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