Knochenbrecher (German Edition)
ihn konservierte wie eine Mumie. Natürlich konnte einem jeder Erzähler den genauen Ort dieses ungewöhnlichen Grabes zeigen, was zu einem großen Angebot sehr verschiedener, unbedingt zu meidender Positionen im Hafen führte. Denn selbstverständlich brachte der Aufenthalt in der Nähe des Toten Unglück.
Nächtelang hatte er nach den ersten Berichten nicht schlafen können. Später hatte er die Geschichte an Jüngere weitergegeben, die seinen Mut bewunderten, bei Flut mit einem Boot über die besagte Stelle zu wriggen. Als der Hafen dann zu Beginn der 1990er Jahre ausgebaggert und restauriert worden war, war er fast ein bisschen enttäuscht gewesen, dass keine Leiche ans Tageslicht kam. Aber vielleicht war sie inzwischen so tief gesunken, dass sie für die Riesenklauen der Sanierer unerreichbar geblieben war und noch immer im Schlick steckte. Metertief unter dem Hafen.
Als Greven vom undurchdringlichen Brackwasser aufsah, begann die Dämmerung bereits, in Dunkelheit überzugehen. Dennoch beschloss er, nicht direkt zum Wagen zu gehen, sondern den kleinen Umweg über den Deich zu nehmen. Schließlich musste er die Spuren des kleinen Imbisses beim alten Ysker abarbeiten. Um seinem Spaziergang wenigstens den Anschein einer sportlichen Aktivität zu geben, wählte er eine mittlere Geschwindigkeit und ließ die Häuser der Sielstraße links liegen, ohne einen Blick in den neuen Weinladen von Adolf Korth zu werfen. Von der Deichkrone aus hatte man einen hervorragenden Blick auf die Kutter und Plattbodenschiffe, die jedoch bereits fast im Dunkeln lagen, so sehr er auch mit den Augen darin herumstocherte. Die Luft roch frisch und salzig, das Konzert der Vögel war noch nicht verstummt. Um das Hexenhaus machte er einen Bogen, um nicht auf den armen Kollegen zu treffen, der es im Auge behalten musste. Über dem Horizont im Norden zuckten ab und zu Lichter. Die Inseln waren nicht weit. Greven genoss die Einsamkeit dieser Spaziergänge bei Dunkelheit, die Erinnerungen, die ihm dabei kamen, und die ihn immer weiter von seinem Alltag entfernten.
Auf der Höhe des einzigen außendeichs stehenden Hauses von Greetsiel wurden die Erinnerungen an ähnliche, lange zurückliegende Spaziergänge mit Freunden, von denen einige schon nicht mehr lebten, schleichend aufgelöst. Statt ihrer Gesichter und Überzeugungen nisteten sich Schritte in seinen Gedanken ein. Er versuchte, sie abzuschütteln, um nicht wieder einer billigen Paranoia auf den Leim zu gehen, doch es gelang ihm nicht. Auf dem Deich ist man nie allein, auch andere drehen um diese Uhrzeit noch eine Runde, sagte er sich, es gibt also keinen Grund, sich umzudrehen.
Bis zum Knick des Deiches in nordöstliche Richtung hielt er durch, dann gab er nach und vollführte eine halbe Pirouette. Ein Schatten verschwand hinter dem Haus, das er gerade passiert hatte. Für einen Sekundenbruchteil hatte er ihn noch erwischt, auch wenn er sich nicht völlig sicher war, dass ein Mensch diesen Schatten geworfen hatte. Doch das ließ sich ja feststellen. Leise und geduckt schlich sich Greven zu dem außendeichs stehenden Haus, das ein schmaler Gang von der Deichkrone trennte. Dieser Gang wäre der nächste Weg zum Schatten gewesen, aber auch der vorhersehbarste. Greven wählte den Weg ums Haus, auch wenn er mit dieser Taktik am Samstag baden gegangen war. Diesmal konnte er jedoch, anders als bei dem Kutter auf der Slipanlage, auf die Immobilität des Objektes vertrauen, hinter dem er Deckung suchte. Und das war nicht das erste Mal, denn vor langer Zeit hatten rund um dieses Haus erbitterte Kämpfe zwischen Apachen und der US-Kavallerie getobt.
Geduld war eine der wichtigsten Eigenschaften, die man für dieses Spiel mitbringen musste, und davon hatte Greven eine ganze Menge zu bieten. Mit nicht mehr ganz jungen, aber alles andere als nachtblinden Augen suchte er den Garten hinter dem Haus ab und wurde schließlich fündig. Fast zu einer Kugel zusammengekauert hockte jemand an der gegenüberliegenden Hausecke. Statt auf die ihm nur bedingt mögliche Schnelligkeit setzte Greven auf langsame Schleichfahrt. Der Schatten rührte sich nicht, auch nicht, als er unmittelbar über ihm war. Keine Sekunde später erfuhr Greven den Grund. Knackend und knisternd brach ein kleiner Busch unter Greven zusammen. Im selben Augenblick fuhr der Schatten aus einem der keine zwei Meter entfernten Sträucher und flog davon. Als Apache war ihm das nie passiert.
Als er sich von den abgebrochenen Zweigen des kleinen
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