Knochenfinder
offen; für Winterberg war dies eine regelrechte Einladung hineinzugehen. Er drückte die Tür weiter auf und betrat den halbdunklen Raum. Die Straßenlaterne direkt vor ihrem Haus erzeugte graues Licht im Zimmer, sodass sich schemenhaft die Umrisse der Möbel erkennen ließen. Winterbergs Blick schweifte über den großen Schreibtisch, den Kleiderschrank und das Bett. Abgestandener Teenagerdunst schlug ihm entgegen.
Er schaute kurz in den Flur, ob ihn auch niemand bemerkte. Dann schloss er die Tür hinter sich und schaltete das Licht an.
Das Zimmer war noch unordentlicher, als er es in Erinnerung hatte. War er denn wirklich schon so lange nicht mehr hier drin gewesen? Schmutzige Wäschestücke lagen auf dem Boden herum, leere Colaflaschen neben dem Bett und dem Schreibtisch. Im Bücherregal stand sogar eine Flasche Whisky, und es war nicht einmal ein billiger. Er sollte die Flasche an sich nehmen und den Raum verlassen, fuhr es Winterberg durch den Kopf. Und zwar schnell. Kein Wunder, dass Niklas keine Mädchen zu sich einlud. Das wäre selbst ihm zu peinlich.
Auf einem zweiten, kleineren Schreibtisch stand der Computer. Das Fenster zu einer anderen Welt: Niklas’ zweitem Zuhause. Winterberg atmete tief durch. Noch gab es ein Zurück, noch konnte er das Zimmer einfach wieder verlassen und unten weitertrinken. Oder sich neben Ute hinlegen und mit einem reinen Gewissen einschlafen. Wenn er sich jetzt an den Rechner setzte, wäre keines von beidem mehr möglich.
Doch er konnte nicht mehr zurück. Wenn er die Wahrheit wissen wollte, musste er das beenden, was er mit dem ersten Schritt in Niklas’ Zimmer begonnen hatte.
Wie ferngesteuert öffnete er die Dachluke zum Lüften und setzte sich an den Schreibtisch. Er ließ den Computer hochfahren, der dabei surrte und piepte. Winterberg lauschte den Geräuschen. Er fragte sich, was ihn hier erwarten würde – und ob Niklas den Rechner mit einem Passwort gesichert hatte. Denn dann wäre das Eindringen in Niklas’ Privatsphäre, der Vertrauensbruch, völlig umsonst gewesen. Und er hoffte, dass Niklas noch möglichst lange auf seiner Französischkurs-Party bleiben würde und seinen Vater nicht dabei erwischte, wie dieser in sein Refugium einbrach.
Der Bildschirm wurde hell und zeigte als Hintergrundbild das Foto einer Band. Zudem gab es einen Schriftzug – wahrscheinlich handelte es sich um den Bandnamen –, der jedoch so verschnörkelt war, dass Winterberg ihn nicht entziffern konnte. Es war wohl eine Heavy-Metal-Band, so wie die aussahen. Doch das war egal: Niklas hatte den Rechner nicht durch ein Passwort geschützt. Winterberg schnaufte erleichtert.
Er suchte auf der Leiste am unteren Bildschirmrand den Button fürs Internet. Zwischen anderen kleinen Symbolen fand er ihn und klickte darauf. Der Lüfter des Rechners brummte, ein Bild erschien. Der Hintergrund war schwarz, die Schrift rot. Totenköpfe und angedeutete Schusslöcher zierten den linken Rand; und es gab Abbildungen von gekreuzten Knochen zum Anklicken. Ein unangenehmes Stechen durchfuhr Winterbergs Körper und lähmte seine Gedanken. Doch der rechte Zeigefinger klickte wie manisch auf die Maus, als gehörte er gar nicht zu ihm.
Eine Begrüßung erschien auf dem Bildschirm. »Heil Janus« stand da in dunkelroter Schrift; die Buchstaben sahen aus, als wären sie mit Blut an eine Wand geschrieben. Winterberg starrte gebannt auf die Seite und klickte auf einen der gekreuzten Knochen. Eine Fotogalerie öffnete sich. Wenn er mit dem Mauszeiger darüberfuhr, liefen die Bilder wie auf einem Filmstreifen von links nach rechts. Langsam bewegte er die Maus über den Streifen, und vergrößerte Fotos erschienen auf dem Monitor. Die Qualität der Bilder war schlecht. Sie waren teilweise unscharf und zu dunkel, bei einigen war wohl auch die Auflösung zu niedrig für den Bildschirm.
Winterberg besah sich die einzelnen Bilder, und bei jedem weiteren Klick verstärkte sich die aufkommende Übelkeit. Er fühlte sich wie ein Wanderer im Moor, dem jeden Moment der feste Boden entzogen werden konnte.
Ein winziger Funken Optimismus glomm in ihm auf, und er suchte nach Copyrightvermerken oder anderen Hinweisen auf den Urheber dieser Bilder. Doch da war nichts. Das hier waren keine künstlerischen Arbeiten, sondern Amateuraufnahmen. Schlechte Schnappschüsse, viele davon wahrscheinlich mit dem Handy gemacht. Die Fotografen hatten Verletzungen fotografiert und die Bilder über das Internet bestimmten Usern zur Verfügung
Weitere Kostenlose Bücher