Knochenfinder
Langsam ließ sie die Zweige los – einen nach dem anderen, um kein Geräusch zu verursachen. Natascha hatte den Eindruck, als hätte jetzt, genau in diesem Moment, jemand dem Wald den Ton abgedreht, die Geräusche gedämmt und den Laut ihres eigenen Herzschlags mit zweihundert Watt verstärkt.
Sie ließ den letzten Zweig los. Plötzlich gab es doch noch ein hörbares Knacken, wodurch ein Rotkehlchen aufgescheucht wurde, das sich schimpfend in die Luft erhob.
Natascha ging sofort in die Hocke und hielt schützend die Hände über den Kopf, doch das war nicht mehr als ein nutzloser Reflex.
»Hey, was machen Sie da?« Der Mann hatte sich blitzschnell umgedreht und kam auf sie zugelaufen.
Natascha sprang wieder auf und zerrte mit einer Hand an ihrer Hosentasche, die noch immer an ihren verschwitzten Beinen klebte. Sie stellte sich breitbeinig vor den Mann und versuchte, ihm mit ausgestrecktem Arm Einhalt zu gebieten. »Halt, Polizei! Bleiben Sie stehen!«
All das war innerhalb weniger Sekundenbruchteile geschehen: ein Verhalten, das sie schon hundert Male geübt hatte. Ach was, tausend Mal. Ihr Körper funktionierte, wie er sollte.
Doch diesmal stand ihr kein Kollege gegenüber, der im Training den Bösen mimte. Diesmal blickte sie dem realen Bösen entgegen, und ihre Augen weiteten sich, als sie begriff, wer da vor ihr stand – als sie ihn erkannte.
Sie sah ihn auf sich zukommen, in der einen Hand das Messer, in der anderen den Handspaten. Und er war bereit, seine Werkzeuge als Waffen zu benutzen. An seinem Blick erkannte sie, dass es ihm völlig egal war, wen er vor sich hatte. Sie hatte ihn gestört – hatte etwas entdeckt, was sie nicht hätte sehen dürfen. Auch wenn sie noch nicht erkennen konnte, was es war. Ihre linke Hand versuchte noch immer, das Handy aus der engen und verklebten Hose zu ziehen, doch je hektischer sie es versuchte, umso weniger bekam sie es zu fassen. Er beschleunigte sein Tempo, und Natascha erkannte gerade noch rechtzeitig, dass er mitten durch die dornigen Büsche rennen wollte.
Sie drehte sich um und sprintete davon. Aber ihre Beine gehorchten ihr nicht richtig, die überanstrengte Muskulatur streikte und trug sie nur langsam vorwärts. Viel zu langsam. Natascha wusste, dass sie nur ihr Fahrrad erreichen musste, das am Grill lehnte. Dann würde sie die letzten Reserven aus sich herausholen und mit dem Rad im Affentempo hinunter in die Stadt fahren, direkt zur Polizeiwache. Und wenn sie Glück hatte, rief schon vorher jemand die Polizei, weil eine Radfahrerin wie eine Irre den Berg hinunterraste.
Doch sie erreichte ihr Rad nicht mehr.
Noch bevor sie in die Nähe des Grills kam, spürte sie einen heftigen Schlag gegen ihren Hinterkopf, und alles wurde augenblicklich schwarz.
Kapitel 40
Winterberg lag im Bett und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er war hundemüde, die Augen brannten, aber in seinem Kopf herrschte das pure Chaos. Immer wenn er die Augen schloss, suchten ihn wirre Bilder heim. Mal war es Karin Staudt mit ihrer Alkoholfahne, mal dieser Schuster in Jägerklamotten und mit einem riesigen Messer in der Hand. Und ständig tauchten Bilder von René, Manuel Siebert und Niklas auf.
Ute lag neben ihm, ihr gleichmäßiger Atem verriet, dass sie tief und fest schlief. Leise – um sie nicht zu wecken – stand er auf. Es hatte ja doch keinen Zweck, dachte er, so würde er nicht einschlafen.
Winterberg ging barfuß in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Da stand noch die angebrochene Flasche Wein vom Abendessen. Er schenkte etwas davon in ein Wasserglas und setzte sich auf einen der Barhocker am Fenster. Die Nacht war sternenklar, die Straßenlaternen erhellten ein paar Vorgärten und Autos, die im Licht geparkt waren. Die Häuser waren dunkel, nur ab und zu sprang eine Lampe an, wenn eine Katze oder ein Vogel den Bewegungsmelder aktivierte. Die Bewohner schliefen wahrscheinlich. Eine nächtliche Vorstadtidylle, dachte er. Alles lag friedlich im Dunkeln, als gäbe es nichts Böses auf der Welt. Und doch geschahen Tag für Tag Dinge, die nicht passieren sollten. Es mussten ja nicht gleich Verbrechen sein; die Gleichgültigkeit der Menschen hatte ebenfalls oft fatale Folgen. Wie viele Bewohner der Straße, in der die Staudts lebten, kannten René? Wie viele von ihnen hatten ihn gesehen, ohne ihn jemals bewusst wahrzunehmen? Wer würde sich an ihn erinnern können? Niklas hatte ihn den roten René genannt. Das klang lustig und gleichzeitig gemein.
Tja, was
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