Knochenfinder
Sie blieb einen Moment lang still, dann schien sie den gleichen Gedanken zu haben wie er. »Du hast Angst, dass er abgehauen ist? Ich werde zur Schule fahren und schauen, ob er dort ist. Danach melde ich mich wieder, okay?«
»Ja.« Die Wut hatte der Betroffenheit Platz gemacht; die gemeinsame Sorge hatte sie wieder näher zusammengebracht. Es war wie ein unausgesprochener Friedensschluss.
Winterberg verabschiedete sich von seiner Frau und legte auf. Es tat ihm leid, dass Ute nun erst mal allein die neuen schockierenden Erkenntnisse verarbeiten musste. Er selbst hatte sich schon stundenlang damit beschäftigt, dass sein Sohn offensichtlich ein großes Problem hatte. Es wäre für alle Beteiligten gut, wenn sie sich jetzt austauschen könnten.
Aber für Privates war im Moment kein Platz.
Lorenz saß noch immer auf dem Besucherstuhl und war sichtlich betroffen. Seine Finger lagen verkrampft in seinem Schoß, und er wich Winterbergs Blick aus. Er war unfreiwillig Zeuge seiner familiären Katastrophe geworden.
Winterberg rieb sich mit der Hand durch die Haare und sah Lorenz beschämt an. »Tja, dann weißt du jetzt also auch Bescheid. Bei uns läuft wohl doch nicht alles so toll, wie ich immer dachte.«
Lorenz hob die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Willst du drüber reden?«
Winterberg sah ihn lange an. Er war unentschlossen, ob er reden sollte – und ob sein Kollege dafür die richtige Person war.
»Soll ich erst mal einen Kaffee holen?«, schlug Lorenz vor. »Du siehst aus, als hättest du einen nötig!«
»Ja, bitte.«
Lorenz verschwand und kam wenige Minuten später mit zwei Tassen zurück; der dampfende Kaffee verbreitete ein verführerisches Aroma.
»Den hab ich vom Wach- und Wechseldienst, die haben den gerade frisch gekocht«, berichtete er und stellte eine weiße Tasse mit dem Logo der Stadt Siegen vor Winterberg auf den Schreibtisch. »Aber die Tassen sollen wir wieder runterbringen.«
Winterberg glaubte, noch nie so guten Kaffee gerochen zu haben. Er nahm die Tasse und sog den Geruch tief in sich ein, als könnte der Duft seinen Kopf von der Last sämtlicher Probleme befreien. Der Kaffee war noch zu heiß, um ihn richtig zu trinken, also nippte Winterberg nur ein bisschen davon.
»Bist du deswegen schon so lange hier?«, erkundigte sich Lorenz. »Du siehst nämlich aus, als würdest du schon die ganze Nacht hier sitzen.«
»Ja.« Mehr brachte Winterberg nicht heraus.
»Schon gut, ich frage nicht weiter nach. Ich denke mir meinen Teil über das, was ich eben gehört habe. Und ich frage auch nicht, ob es strafrechtliche Relevanz hat oder einfach zwischen euch geregelt werden kann.« Lorenz nippte an seinem Kaffee und hielt dann die Tasse mit beiden Händen fest.
Winterberg merkte, wie sein Gesicht heiß wurde. Er hatte eine Zeit lang völlig verdrängt, dass Niklas’ Foto- und Videosammlung mehr war als nur ein Ausdruck seiner Probleme. Er hatte die rechtlichen Auswirkungen weggeblendet und so getan, als sei alles, was man im Internet findet, von einer höheren Instanz abgesegnet und juristisch völlig unbedenklich. Verlegen sah er auf die Spitze seiner Schuhe, und ihm fiel merkwürdigerweise in diesem Augenblick auf, wie abgetragen und faltig das Leder war.
»Schon gut«, meinte Lorenz. »Ich weiß von nichts, und das Gespräch hat niemals stattgefunden. In Ordnung?«
Doch ganz so einfach war es für Winterberg nicht. Das Thema hing im Raum und drohte, sich zwischen sie zu drängen. Das wollte er nicht zulassen. »Niklas macht auch bei diesen Gewaltvideos mit«, gestand er seinem Kollegen. »Und zwar richtig.« Jetzt war es draußen.
Lorenz zog einen Mundwinkel nach oben. »Oh.« Mehr sagte er nicht.
»Ich hab mir seinen Rechner angesehen und die Bilder gefunden. Es sind viele, und es sieht schrecklich aus. Ich glaube, dass es sich um ein Internetforum handelt. Lauter Halbirre, die sich mit blutrünstigen Fotos brüsten. Ich kann allerdings nicht erkennen, ob die Bilder echt sind oder gestellt.« Er mied Lorenz’ Blick und starrte auf die Wand hinter seinem Kollegen. Wenn sich jeder Zeuge und jeder Verdächtige bei einer Befragung so unangenehm fühlte wie er jetzt, verstand er plötzlich deren Unsicherheit. »Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Erst das Piercing, dann dieser Irokesenschnitt. Und jetzt das. Wir haben uns nichts dabei gedacht, dass er so oft am Computer sitzt. Wir dachten, dass er sich einfach mit irgendwelchen Spielen im Internet vergnügt. Ein bisschen
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