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Knochenfinder

Knochenfinder

Titel: Knochenfinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Lahmer
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gestellt.
    Winterberg erblickte große Schnittwunden an den Unterarmen, aus denen Blut, einem Flussdelta gleich, über Gelenke und Handinnenflächen rann. Behaarte Waden mit daumengroßen Brandwunden, die teilweise frisch, manchmal aber auch kurz vor der Vernarbung waren. Er dachte an die Schmucknarben mancher Völker und an Brandzeichen bei Kühen und Pferden. Aber hier sah er keine Nutztiere vor sich, sondern Menschen. Je weiter die Bildleiste lief, umso schrecklicher erschienen ihm die Fotos. Auf den letzten Bildern waren Gesichter abgebildet, deren schmerzverzerrte Münder und verzweifelte Blicke den Betrachter zu durchbohren schienen. Winterberg befand sich in einem Sog; er vergrößerte einzelne Bilder und ließ verwackelte Filmsequenzen an sich vorüberziehen. Er hörte Schreie und das Flehen der Gepeinigten. Die verkratzten Töne aus den Lautsprechern stachen im Ohr und holten ihn in die Wirklichkeit zurück.
    »Scheiße!«
    Er sprang auf und schlug mit der Handkante auf den Schreibtisch. Niklas war Mitglied in diesem Gewaltvideo-Club! Was ging da in seinem Sohn vor sich? Jetzt wollte er es genau wissen, auch wenn er Angst vor dem hatte, was er möglicherweise noch finden würde.
    Winterberg setzte sich wieder, obwohl ihn bei den Gedanken an die Bilder eine unbändige Wut erfasste. Da waren böse Mächte am Werk, die seinen Sohn für ihre schauerlichen Geschichten missbrauchten und ihm womöglich noch Gefühle der Zugehörigkeit verschafften. Dem musste er Einhalt gebieten. Als Vater und als Polizist.
    Widerstrebend klickte er weitere Menüpunkte an, die mit Icons versehen waren, die wie Schusswunden aussahen. Hier fanden sich jedoch keine Fotos, sondern Texte. Schon die Überschriften schüttelten ihn. »R.I.P.« stand da; die vertrauten drei Buchstaben wurden hier jedoch als Kürzel für Rest in Pain benutzt. Ruhe im Schmerz. Was waren das für Menschen, die solche Texte schrieben? Und was noch viel schlimmer war: Was hatte Niklas mit all dem zu tun?
    Er öffnete einen weiteren Menüpunkt und hoffte, endlich einen Hinweis auf die Seitenbetreiber oder Urheber der Fotos und Texte zu finden. Doch was er dann erblickte, übertraf noch den Schrecken und den Ekel der vorherigen Seiten. Eine weitere Bilderserie, diesmal mit einem Tier. Es sah aus wie ein Meerschweinchen. Vom Blut feuchte Klappmesser lagen daneben, ein paar einzelne Fellsträhnen klebten an der Klinge. Im Hintergrund war ein Schatten zu sehen. Winterberg fühlte sich plötzlich, als würde sein Blut zu kochen beginnen und wie ein glühend heißer Strom durch seinen Körper fließen. Das Schattenbild war eindeutig: der Irokesenschnitt, der leichte Schwung der Nase, der Griff der Hand um den Messerknauf. Das musste Niklas sein.
    Winterberg hoffte auf eine Täuschung, einen Traum – auf irgendetwas Irreales, das ihn wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Doch die blutigen Fratzen verhöhnten ihn, lachten ihn aus. Er ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen und hielt sich die Hände vor das Gesicht.
    Niklas hatte sein Weltbild nicht nur zum Wackeln gebracht, er hatte es zerstört. Zerschnitten und zerstochen wie den Kadaver des Meerschweinchens. Langsam stand Winterberg auf, wankte und stolperte aus dem Zimmer seines Sohnes. Das hier war ein schlechter Film, ein Albtraum. Das konnte nicht echt sein.
    Aber, und diese Frage schmerzte ihn am allermeisten, wo war Niklas jetzt? War er wirklich auf dieser Französischkurs-Party?

Kapitel 41
    Winterberg sah auf die Uhr. Es war Viertel vor sechs, und langsam erwachte die Stadt. Die Sonne war noch schwach, doch wenn er in eines der Büros auf der anderen Flurseite gehen würde, könnte er sie schon scheinen sehen.
    Aber Hannes Winterberg interessierte sich nicht für die aufgehende Sonne und nicht für die Bewohner der Stadt. In seinem Kopf herrschte nur eine große Leere. Der Schock, den er beim Entdecken der Bilder auf Niklas’ Computer erlitten hatte, saß noch zu tief. Zuerst hatte er unten in der Küche die Weinflasche angesetzt und den Rest in einem Zug ausgetrunken. Dann hatte er das Bedürfnis gehabt, irgendetwas zu zerstören: am liebsten den Computer, aber den brauchte er noch. Schließlich war er wieder nach oben gegangen, hatte hektisch sämtliche Kabel des Computers von den Peripheriegeräten und der Steckdose getrennt und den Tower samt Leitungsgewirr in eine Tasche gesteckt. Dann hatte er Ute eine kurze Notiz auf den Küchentisch gelegt und war mit der Tasche zur Wache gerast. Das war um

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