Knochenfinder
Kriminaltechnik nach Spuren gesucht hatten. Natascha konnte deutlich erkennen, wo die vielen Polizeiwagen gestanden hatten, weitere Reifenspuren führten kreuz und quer über den Kiesplatz. Doch nun sah die Szene nicht mehr spannend und aufregend aus, sondern irgendwie traurig. Wie nach einer Abschiedsparty, bei der man einen Freund zum allerletzten Mal gesehen hatte, der danach auf Nimmerwiedersehen in eine ferne Stadt gezogen war.
Natascha lehnte ihr Rad an den gemauerten Grill und ging zu dem Baum, unter dem sie am Vormittag gehockt hatte. Sie setzte sich, schloss die Augen und wartete auf eine Eingebung. Angestrengt versuchte sie, sich in die Szenerie am Morgen hineinzufühlen: Sie hörte die Stimmen der Polizisten, die einander Bemerkungen zuriefen, sah die Plastikdose im Himbeerstrauch, umgeben von Steinen und Zweigen, fühlte die Borke des Baumes, die durch den dünnen Stoff des T-Shirts kratzte.
Nichts.
Vielleicht war sie zu angespannt, synästhetische Wahrnehmungen ließen sich schließlich nicht erzwingen. Entweder waren sie da oder eben nicht. Manchmal half Konzentration, um sie erneut aufleben zu lassen, aber bisweilen funktionierte auch das nicht.
Sie war enttäuscht. Simon hatte recht gehabt, diese innere Leere hätte sie auch morgen Vormittag haben können. Sie wäre dann mit Winterberg oder Lorenz bequem im Auto hierhergekommen und hätte anschließend ihre Ermittlungsarbeit fortgeführt. Allerdings hätten die beiden ihr diesen vermeintlichen Humbug mit dem inneren Bild ohnehin ausgeredet und als Esoterik-Kram abgetan. Sie wäre nicht die erste Synästhetikerin, der es so erging. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, ihre speziellen Wahrnehmungsfähigkeiten überbewertet zu haben.
Doch als sie sich das letzte Mal von ihren vernetzten Sinnen hatte leiten lassen, hatte sie damit richtiggelegen. Am Stimmungsbild im Haus von Renés Eltern war ihr aufgefallen, dass es in der Familie ein Geheimnis gab. Und das hatte sich ja schließlich bewahrheitet.
Sie stand ächzend auf. Das lange Sitzen nach dem intensiven Radfahren hatte ihren Muskeln nicht gutgetan. Wenn sie wieder zu Hause war, würde sie die pochenden Oberschenkel mit Franzbranntwein einreiben und sich dann ins Bett legen. Und anschließend bestimmt tief und fest schlafen.
Plötzlich hatte sie wieder die Warnung ihrer Oma im Kopf: Iss nichts aus dem Wald, mein Kind. Dat gibt Würmer im Magen. Natascha musste lächeln. Der Kiesparkplatz war von Himbeersträuchern umgeben, an allen Seiten wuchsen sie, und die scharlachroten Beeren leuchteten verlockend aus dem Grün der Büsche.
Von wegen Würmer! Während sie zu den Sträuchern neben dem abgesperrten Bereich ging, lief ihr schon das Wasser im Munde zusammen. Wenn sie die Beeren pflückte, die nicht so dicht am Boden wuchsen, würde sie auch keine Würmer bekommen. Falls das überhaupt stimmte und nicht wieder ein Märchen war, um unwissende Kinder einzuschüchtern und gefügig zu machen.
Die erste Beere fühlte sich im Mund hart und knubbelig an und schmeckte irgendwie nach Nichts. Auch die Beeren Nummer zwei und drei waren eher fad, versprachen aber schon ein wenig Süße. Dann würden die vierte und die fünfte wohl wirklich gut schmecken. Natascha bog die Büsche auseinander, um an eine besonders dicke Beere heranzukommen, die sehr saftig aussah.
Doch mitten in der Bewegung hielt Natascha inne.
Was war das?
Sie blickte sich leise um. Nur etwa fünfundzwanzig Meter von ihr entfernt hockte jemand vor einem breiten Baumstumpf. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Sie sah genauer hin. Der Mann hielt einen kleinen Handspaten in der Linken und in der Rechten ein Messer. Wenn sie seine Bewegung richtig deutete, höhlte er gerade einen Baumstumpf aus. Neben ihm lagen kleine Holzschnitzel, die er wohl aus dem Inneren des Stumpfes herausgeholt hatte.
Nataschas Gedanken rasten. Wer war das? Und was machte er da? Ihr wurde mit einem Mal wieder heiß, gleichzeitig rann kalter Schweiß aus all ihren Poren. Sie wagte nicht, die Büsche loszulassen. Zu groß war die Angst, dass der Mann das Rascheln hören, sich umdrehen und sie dann entdecken würde.
Und wenn alles nur ganz harmlos war?, fuhr es ihr durch den Kopf. Egal, das konnten die Kollegen klären. Mit einer Hand hielt sie die Zweige der Himbeersträucher fest, mit der anderen versuchte sie, ihr Handy aus der Hosentasche zu nesteln. Doch die Shorts waren total verschwitzt und klebten an ihren Beinen. So bekäme sie das Handy nicht zu packen.
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