Knochenfinder
halb eins gewesen.
Seither hockte er in seinem Büro. Er durchforstete Lorenz’ Unterlagen, las die Zusammenfassung der Befragungen von Karim Bayram und Peer Bosch, klickte sich im Internet durch unglaubliche Seiten und nickte zwischendurch immer mal wieder ein.
Niklas’ Computer stand neben seinem Schreibtisch; ständig überlegte er, ihn Hanke zu geben. Winterberg hatte nicht vor, das Thema an die große Glocke zu hängen. Aber er brauchte auch Unterstützung bei der Untersuchung des Computers, denn allein kam er damit nicht zurecht.
Plötzlich klingelte sein Handy. Es war Ute.
»Hannes! Was ist hier los?« Sie klang aufgebracht, was er ihr nicht verdenken konnte. Wahrscheinlich hatte sie seinen Zettel auf dem Küchentisch gefunden. »Niklas ist eben wutentbrannt aus dem Haus gestürmt und hat geschrien, dass er dich hasst. Er hat noch einiges mehr gesagt, aber das werde ich dir gegenüber nicht wiederholen. Stimmt es, dass du ihm den Computer weggenommen hast?«
Winterberg seufzte. »Ja, habe ich. Und du willst ganz bestimmt nicht wissen, warum.«
Utes Lachen am anderen Ende klang nicht echt. »Aber natürlich nicht«, stimmte sie ihm ironisch zu. »Also, was ist da los?«
Er räusperte sich, als könnte er die Überbringung der schlechten Nachricht damit verhindern.
»Hannes! Jetzt sag mir, was los ist!«, schrie sie, als er nicht antwortete.
Er hatte Ute schon lange nicht mehr so zornig erlebt. Niklas musste ihr wohl ganz schön zugesetzt haben.
»Ich glaube, Niklas ist da in eine Sache verwickelt, und deshalb habe ich vorerst den Rechner konfisziert«, erklärte er ausweichend. Es klang wie ein harmloser Jungenstreich, doch die Bilder, die er gesehen hatte, waren noch immer präsent.
»Was für eine Sache? Ist an dem Drogenverdacht doch was dran? Was nimmt mein Sohn?« Ihre Stimme wurde schrill.
Winterberg wollte, dass ihr Schreien aufhörte, dass Ute sich wieder beruhigte und normal mit ihm sprach. Doch er wusste: Die Wahrheit würde sie auch nicht beruhigen können.
Plötzlich stand Lorenz in der Tür. Er sah übermüdet aus, schien aber zumindest geduscht zu haben.
»Nein, keine Drogen. Es sind Gewaltvideos«, erwiderte Winterberg leise.
Am anderen Ende blieb es ein paar Sekunden lang still. Währenddessen setzte sich Lorenz auf den Besucherstuhl. Winterberg war irritiert und wollte ihm ein Zeichen geben, dass er das Büro verlassen sollte. Doch dann redete Ute auf ihn ein, und er hatte Mühe, ihren Worten zu folgen.
»Was denn für Videos?«, entgegnete sie aufgebracht. »Meinst du Spielfilme? Was ist denn daran so schlimm; du guckst doch selbst mal einen Actionfilm! Das ist doch überhaupt kein Grund, seinem Sohn den Computer wegzunehmen! Niklas hat dich als Diktator beschimpft und dich einen Stasi-Offizier genannt. Und weißt du was? Ich kann ihn verstehen! Wie bist du überhaupt an die Filme gekommen? Hast du heimlich seinen Rechner untersucht? Du solltest dich was schämen, Hannes Winterberg –«
»Stopp!« Winterberg brüllte ins Telefon. »Es reicht! Ich war an seinem Computer, weil ich sichergehen wollte, dass alles in Ordnung ist. Ich bin sein Vater, verdammt!«
Lorenz hob die Augenbrauen und stand vom Stuhl auf. Winterberg zeigte mit dem Zeigefinger, dass er sich wieder setzen sollte. Jetzt war es ohnehin egal, was er alles noch zu hören bekommen würde. Er wusste sowieso schon viel zu viel.
»Und es ist überhaupt nichts in Ordnung!«, fuhr er fort. »Unser Sohn ist kein beschissener Kiffer, sondern er geilt sich an perversen brutalen Bildern auf! Und ich bin verdammt froh, dass ich an seinem Computer war, sonst würde er da immer noch sein Unwesen treiben!«
Er atmete tief durch. Ute schwieg. Lorenz sah betroffen zu Boden.
»Und, hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte er und konnte hören, wie Ute am anderen Ende schniefte. Augenblicklich tat ihm sein Wutausbruch leid, er hatte sie ja nicht verletzen wollen.
»Ja. Ich bin geschockt. Kannst du nach Hause kommen, damit wir drüber reden können?« Sie schniefte erneut.
»Nein, das geht nicht. Wir haben in einer halben Stunde ein wichtiges Meeting.« Seine Stimme wurde sanfter. »Ist Niklas zur Schule gegangen?«
Ute schnäuzte sich und bejahte seine Frage leise.
»Bist du dir ganz sicher?«, hakte Winterberg nach. Er dachte unwillkürlich an René Staudt. Auch der war morgens scheinbar zur Schule gegangen und seitdem verschwunden. Und das schon seit sechs Ta g e n.
»Er hat seinen Schulrucksack mitgenommen.«
Weitere Kostenlose Bücher