Knochenfinder
irgendwo draußen in der Stadt.
Hajo Schneiders war in seiner Funktion als Staatsanwalt ersetzbar, als Person hingegen nicht. Und das war das Hauptproblem von Dr. Eleonore Kraft. Sie holte ein Klemmbrett aus der zitronengelben Ledertasche und sah erwartungsvoll von einem zum anderen.
Winterberg erhob sich und ging zum Flipchart. Er legte Mappen und Papiere auf dem Tisch daneben ab und rieb sich die Hände an den Hosenbeinen, als hätte er sie an den Unterlagen beschmutzt.
Hinter ihm hing die Landkarte, auf der die beiden Fingerfunde markiert waren. Renés Foto war wie zur Mahnung darüber angebracht worden: Es stachelte das ganze Team zu erhöhter Konzentration an. Der Beamer blieb ausgeschaltet.
Winterbergs Anspannung war fast greifbar. Er hielt die Arme hinter dem Rücken verschränkt, was er ansonsten nie tat. Er warf Jockel einen Blick zu und nickte. »Erzähl erst mal, was ihr alles herausgefunden habt. Klär uns auf, was Geocaching überhaupt ist.«
»Okay.« Jockel stand auf und ging ebenfalls zum Flipchart. Neben Winterberg wirkte er noch schmaler, als er ohnehin schon war, zudem reichte er dem Kollegen höchstens bis zum Kinn. Natascha fragte sich, ob Jockel mit dieser Statur wohl Respekt hervorrufen würde. Doch was ihm an körperlicher Präsenz fehlte, konnte er mit rascher Auffassungsgabe und analytischer Intelligenz wieder wettmachen. Der Fehler vieler Menschen war, dass sie Jockel unterschätzten. Sie nahmen ihn einfach nicht so ernst wie die großgewachsenen uniformierten Kollegen und beachteten ihn deshalb nur wenig. Und so merkten sie nicht, dass Jockel alles, was sie sagten, wie ein Schwamm aufsog. Ihm entging nichts, und er konnte scharf kombinieren.
Gleichwohl würde der Geocachingfall, in den Jockel so viel Arbeitskraft investiert hatte, nun nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich sein. Natascha war sich allerdings sicher, dass sie auch nach dieser Sitzung noch mit Jockel zusammenarbeiten würden. Er wusste einfach zu viel über den aktuellen Fall.
Jockel strich sich gedankenverloren über die Knopfleiste, zog die Hose am Gürtel nach oben und räusperte sich. »Ich erzähle euch wohl erst mal etwas über Geocaching.« Er warf der Staatsanwältin einen fragenden Blick zu.
Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Bitte, erklären Sie.«
»Geocaching gibt es noch nicht so lange, hat sich aber in den letzten vier oder fünf Jahren zu einem regelrechten Volkssport entwickelt. Anfang 2000 haben die Amis die GPS-Verschlüsselung freigegeben, und danach fing es recht schnell mit dem Verstecken und der Schnitzeljagd mithilfe von Satellitensignalen an. Anfänglich schien noch das geheimnisvolle Versteckspiel die Initialzündung des Ganzen zu sein, aber mittlerweile scheint das irgendwie jeder zu machen, der in sein möchte. Sogar der CVJM in meinem Wohngebiet bietet das als Freizeitvergnügen an.«
Natascha dachte an die vielen christlichen Vereinigungen im Siegerland und glaubte, einen Hauch von Verachtung in Jockels Stimme zu hören.
»Soweit wir das in der kurzen Zeit herausfinden konnten«, fuhr er fort, »wurde noch nie irgendwo auf der Welt ein totes Tier oder ein amputierter Körperteil oder etwas Ähnliches in einem Cache gefunden. Wir haben also die zweifelhafte Ehre, als Erste in einem Kriminalfall dieser Art zu ermitteln. Inzwischen konnte festgestellt werden, dass im ersten Versteck ein Daumen lag und im zweiten ein Zeigefinger.«
»Habt ihr schon eine Spur?«, wollte Lorenz wissen und schaute vom Laptop auf.
Jockel schüttelte den Kopf. »Es ist teilweise gar nicht so einfach, die Realnamen der Leute herauszufinden. Die Geocaches gehören jeweils demjenigen, der sie auch versteckt hat, er ist der Owner . Die Cacheverstecke, in denen die Knochen gefunden wurden, gehören einem Robert Münker aus Kreuztal. Er nennt sich Bergmann Henner .«
Natascha stutzte. Dieser Name kam ihr irgendwie bekannt vor. »Entschuldigung, aber woher kenne ich diesen Namen?«, fragte sie. Als alle anderen lachten, schaute sie irritiert zu Winterberg.
Grinsend erklärte er: »Auf der Siegbrücke mitten in der Stadt stehen zwei überlebensgroße Skulpturen, die an die glorreiche Zeit des Erzbergbaus erinnern sollen. Sie heißen Henner und Frieder, wobei Henner den Bergmann mit Schlägel und Eisen symbolisiert und Frieder den Hüttenmann mit einer riesigen Zange, der gerade einen großen Eisenbarren aus dem Schmelzofen zieht. Du hast bestimmt schon Bilder davon gesehen, oder?«
Natascha fiel es wieder ein.
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