Knochenfinder
weitergeradelt. Unterwegs war sie bemüht gewesen, nicht an René zu denken, doch sie hatte sich gegen die Bilder nicht wehren können, die sie immer wieder heimsuchten. Ob René überhaupt noch am Leben war?
Wie immer mied sie den engen Fahrstuhl. Sie hastete zur Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal, während sie nach oben eilte.
Voller Schwung öffnete sie die Tür zum Besprechungsraum. Im nächsten Moment starrten vier Paar Männeraugen sie erstaunt an. Winterberg, Lorenz, Polizeihauptkommissar Jockel von der GS 4 und Schmitz von der Kriminaltechnik saßen um den großen Besprechungstisch; vor ihnen stapelten sich Papiere und Ordner, und in der Mitte stand eine Thermoskanne. Jeder hatte sich bereits eine Tasse Kaffee genommen.
Natascha fühlte sich genötigt, auf die verwunderten Blicke zu reagieren. Statt zu grüßen, erklärte sie: »Ich hab doch gesagt, dass ich mich beeile!«
»Nimm dir einen Kaffee und setz dich«, forderte Winterberg sie auf. »Gleich kommt noch die Staatsanwältin. Es ist Dr. Kraft. Dreisler müsste als Abteilungsleiter zwar eigentlich auch hier sein, aber er lässt sich entschuldigen.« Dann schaute er auf seine Unterlagen, die er vor sich ausgebreitet hatte und nun nach einem nur für ihn verständlichen System ordnete.
Lorenz blickte sie müde an. Er musste schon länger hier sein; die Haare standen an einer Seite ab, und seine Augen glänzten mehr als sonst. Sein Gesicht wirkte eingefallen. Nach einem kurzen Gruß verschanzte er sich hinter seinem Laptop. Natascha ließ den Blick durch den Raum schweifen und sah erst jetzt, dass auch auf dem Boden Ordner standen. Neben Lorenz’ Computer entdeckte sie die Hauptakte. »Knochenfinder« stand in großen Buchstaben darauf. Ein makabrer Name für eine SoKo, fand Natascha.
Im Gegensatz zu Lorenz wirkte Schmitz ausgesprochen munter. Das lag vielleicht am Kaugummikauen, dachte Natascha. Wann immer sie den Kollegen von der Kriminaltechnik sah, schob er ein Kaugummi im Mund herum. Er war um die fünfzig und hatte schneeweißes Haar, das aber noch sehr füllig war.
»Na, Mädchen, alles in Ordnung?«
Natascha nickte und setzte sich neben ihn. »Eigentlich schon. Aber ich weiß nicht, ob das so bleibt. Bei Lorenz’ Mitteilung lief mir jedenfalls ein kalter Schauer den Rücken hinunter.«
Sie sah zu Polizeihauptkommissar Jockel. Bisher fielen die Geocachingfunde in seinen Zuständigkeitsbereich, aber nun zeichnete sich ein Wechsel ab. Soweit Natascha wusste, gab es bislang noch keine Leiche und somit auch kein Tötungsdelikt. Doch allen im Raum war klar, dass sich das ganz schnell ändern könnte. Und dann würden sie in einem Mordfall ermitteln.
Natascha hoffte, dass es nicht so weit kommen würde. Doch möglicherweise stießen sie ja im Verlauf der heutigen Ermittlungen noch auf gute Ergebnisse, auch wenn es nach dem augenblicklichen Stand der Dinge eigentlich nicht danach aussah. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte Natascha und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
Es klopfte, die Tür ging auf, und die Staatsanwältin trat ein. Mit einem Mal wirkte der Raum schäbig und trotz der beiden Yuccapalmen auf den Fensterbrettern leblos. Eleonore Kraft trug ein hellgrünes Kostüm, passende Schuhe mit flachen Absätzen, um ihre hochgewachsene Figur nicht noch größer erscheinen zu lassen, und eine zitronengelbe Tasche.
»Guten Morgen«, grüßte sie knapp und legte ihre Tasche auf den Tisch. »Ich sehe, dass Sie bereits angefangen haben. Machen Sie nur weiter, ich werde mich schon ins Thema einfinden.«
Natascha wusste von den Kollegen, dass die neue Staatsanwältin es schwer hatte, in ihrer Position akzeptiert zu werden. Ihr Vorgänger, Staatsanwalt Schneider, war bei vielen Beamten sehr beliebt gewesen. Und das nicht nur, weil er ein humorvoller Mensch voller Ideale gewesen war, sondern auch, weil er bei Ermittlungen sogar oft draußen vor Ort mitgearbeitet und dabei häufig gute Ideen eingebracht hatte. Am vergangenen Ostersonntag war er morgens im Bett geblieben, weil er sich »grippsch« fühlte, wie er sagte. Als seine Frau ihm ein paar Stunden später das Mittagessen bringen wollte, war er bereits tot. Herzinfarkt – und das mit zweiundfünfzig Jahren. Dieser Tod war vielen Kollegen näher gegangen als viele der Gewaltverbrechen, mit denen sie täglich zu tun hatten. Vielleicht, weil er ihnen die eigene Sterblichkeit deutlicher vor Augen geführt hatte. Weil der Tod mitten unter ihnen ein Opfer gefunden hatte und nicht
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