Knochenfinder
– richtiger gesagt, von einem Mädchen, das die Eltern so bezeichnet haben – mehr oder weniger des Stalkings bezichtigt. René selbst ist wohl im Fußballverein gemobbt worden.« Winterberg zeigte auf Renés Foto, das hinter ihm hing. »Alles in allem ergibt sich das Bild eines Jugendlichen, der mit ganz schön vielen Problemen zu kämpfen hat. Zu Hause findet er wenig Beachtung, die Fußballkumpels akzeptieren ihn nicht, und bei den Mädchen kommt er mit seiner Art nicht an. Als es dann zwischen seinen Eltern zu einem lautstarken Streit kommt, packt er ein paar Habseligkeiten zusammen und haut ab. Er stellt sich an der Autobahn hin, um als Tramper mitgenommen zu werden. So weit ist das alles noch ganz schlüssig und nachvollziehbar. Aber dann ändert sich das Bild. Zwei abgeschnittene Finger werden gefunden, und zwar an völlig verschiedenen Stellen des Landkreises: im Dreiländereck bei Burbach und auf der Stöcker Höhe bei Freudenberg. Und wir können nicht ausschließen, dass es sich um die Finger von René handelt.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Aber es ist immerhin eine Spur ... Schmitz’ Spur.«
Natascha verstand, was er damit andeuten wollte. Wenn die Finger nicht von René waren, dann hatten sie eine unendlich große Zahl von Möglichkeiten, denen sie nachgehen mussten.
»Und falls es wirklich Renés Finger sind, so stellt sich für uns eine neue wichtige Frage«, fügte Winterberg in einem lauteren Tonfall hinzu. »Warum liegen seine Finger in Geocachingverstecken?«
Kapitel 21
So kurz nach dem Aufstehen fiel ihm die Konzentration schwer. Der Körper befand sich in einer Art Stand-by-Modus, und die Gedanken flogen wie aufgeschreckte Vögel in seinem Kopf herum. Doch er wusste genau, wie er sie fokussieren konnte.
Der Computer konnte jedenfalls schneller hochfahren als er, und nach wenigen Mausklicks war er wieder im Netz und ging seiner Lieblingstätigkeit nach. Es war fantastisch! Die Nachrichten überschlugen sich förmlich. Über den ersten Fingerfund berichteten die lokalen Medien zwar recht ausführlich, doch er wurde so dargestellt, als handelte es sich um ein Stück von einem Tierkadaver. Scheinbar wusste da noch niemand, dass es ein menschlicher Daumen war. Komisch, dass die Leute das nicht direkt an der Form erkannt hatten. Er war aber auch davon ausgegangen, dass sich der Finger länger halten würde. Möglicherweise war jedoch der Polizei von Anfang an klar gewesen, dass es sich um einen Daumen handelte, und sie hatten das bloß noch nicht an die große Glocke gehängt. Von wegen Panik vermeiden und so ...
Genutzt hatte es am Ende wenig.
Unter den Geocachern hatte der Daumenfund weniger Aufsehen erregt, als er sich das vorgestellt hatte. Das hatte ihm eigentlich nicht so gut in den Kram gepasst. Er wollte doch die Cacher aufmischen und ihnen Angst einjagen. Richtige Angst. Doch gestern war es endlich besser geworden. Zwei Typen hatten den Zeigefinger gefunden, und dann war wohl auch dem Letzten klar geworden, dass das hier kein Spaß war. Dass da Finger in den Cacheverstecken lagen anstelle des üblichen Mists.
Von da an wurde es auch richtig spannend im Netz. Plötzlich regten sich die Cacher wahnsinnig auf, und es gab kaum noch ein anderes Thema in den Geocachingforen. Sogar auf vielen englischsprachigen Seiten ging es allein um die Fingerbox . Niemand interessierte sich mehr für belangloses Zeug wie geklaute Cachedosen oder verschwundene Multi-Hinweise.
Und heute war Tag drei des großen Spiels. Er war gespannt, was da noch an Reaktionen kommen würde. Und wann endlich jemand merkte, dass die Fingerboxen Teil einer großen Schnitzeljagd waren – eines Spiels, das nach seinen Regeln gespielt wurde.
Kapitel 22
Jockel hatte um eine kurze Raucherpause gebeten und nach dem Okay der anderen zusammen mit Winterberg den Raum verlassen. Natascha nutzte die wenigen Minuten, um endlich ihr Brötchen zu essen. Mehr als eine Stunde lang hatte es in der Papiertüte vor ihr gelegen und mit seinem frischen Duft und einem bunten Geruchsbild gelockt. Jetzt musste sie sich zusammenreißen, um beim Essen nicht zu schlingen. Natascha war ein ausgesprochener Frühstücksmensch und liebte die erste Mahlzeit am Tag. Umso mehr hasste sie es, morgens hungrig das Haus verlassen zu müssen.
Die Staatsanwältin war ans Fenster gegangen und hatte es geöffnet, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Morgens um acht war das noch möglich, doch in spätestens zwei Stunden käme nur noch ein Gemisch
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