Knochenfinder
Schule, sondern nahm eine gepackte Tasche mit Wechselwäsche und verschwand nach Wilnsdorf in Richtung Autobahn. Das bestätigen mehrere Zeugen. Leider verliert sich dort seine Spur. Es sind immer noch Kollegen unterwegs, um das Personal am Autohof zu befragen. Doch das dauert, weil da so viele Aushilfen arbeiten. Bisher war aber noch kein wirklich brauchbarer Hinweis darunter.« Er blätterte ein paar Seiten um. »So weit konnten wir den Freitag rekonstruieren. Seine Eltern haben ihn am Sonntag vermisst gemeldet.«
Die Staatsanwältin runzelte die Stirn. »Das ist aber reichlich spät! Wie erklären die Eltern das?«
Lorenz blickte sie an und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Man kann es modernes, zwangsbefreites Familienleben nennen. Oder Vernachlässigung – je nach der eigenen Auffassung. Die Eltern sind jedenfalls der Meinung, dass ein gemeinsames Essen pro Woche ausreicht, um miteinander zu reden und sich um die Belange des Sohnes zu kümmern. Und weil René am Samstagabend nicht zu diesem Essen kam, wurden sie unruhig. Aber dann ließen sie sich prompt vom Bruder der Mutter beruhigen, der meinte, der Junge würde schon wiederkommen.«
»Das ist aber höchst sonderbar«, meinte Staatsanwältin Kraft. »Was haben die Eltern denn am Freitag und am Samstag die ganze Zeit gemacht – wenn sie nicht gemerkt haben wollen, dass ihr Sohn nicht zu Hause ist?«
Sie war offenkundig fassungslos. Kein Wunder, dachte Natascha. Ihr selbst und ihren Kollegen war es genauso ergangen.
Lorenz gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Angeblich war der Vater fast den ganzen Freitag arbeiten, und am Samstag sind er und seine Frau erst spät wach geworden. Die Mutter liegt eh oft im Bett oder zieht sich längere Zeit zurück – wegen Migräne, wie die beiden behaupten. Und weil sie glaubten, René ginge samstags immer zum Fußballspielen, hat ihn auch niemand vermisst. Erst als er nicht wie üblich zu dem Abendessen am Samstag erschien, wollen die Eltern etwas bemerkt haben.«
»Aber Sie glauben den Angaben der Eltern nicht, richtig?«, fragte die Staatsanwältin. Sie saß nicht mehr streng aufrecht wie zuvor, sondern hatte sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt. Ihre Abwehr war überdeutlich.
»Nein«, antwortete Natascha anstelle ihres Kollegen.
Ihre Antwort hing ein paar Sekunden im Raum, bis Lorenz ihr signalisierte, dass sie weiterreden sollte.
»Die zwei haben uns bei unserem letzten Besuch eine tolle Szene vorgeführt. Zuerst war nur der Vater anwesend und erzählte uns, seine Frau läge wieder mal mit Migräne im Bett. Aber nach kurzer Zeit kam sie nach unten ins Wohnzimmer. Sie war total betrunken. Ich glaube, dass sie schon länger Alkoholikerin ist. Möglicherweise hat das etwas damit zu tun, dass René abgehauen ist.«
»Gibt es dafür konkrete Hinweise? Flaschen, die herumstehen?«, wollte die Staatsanwältin wissen.
Natascha entfuhr ein verächtliches Schnauben. »Nichts derart Auffälliges. Es ist eher das Unsichtbare, das mich schon bei unserem ersten Besuch stutzig gemacht hat. Zum Beispiel ist dort alles zwanghaft ordentlich. Die Wohnung hat was Neurotisches, finde ich. Sie ist nicht gemütlich, sondern wirkt leblos. Wie eine Fassade, die mit aller Macht aufrechterhalten werden muss. Da ist nichts dem Zufall überlassen, sämtliche Möbelstücke sind millimetergenau arrangiert. Es gibt keinen Staub, keinen Schmutz; nirgendwo liegen Zeitungen herum. Und genau so benehmen sich auch Renés Eltern: neurotisch bis ins Detail. Meines Erachtens spricht dieses zwanghaft-rituelle Fischessen am Samstagabend Bände.«
Die Staatsanwältin beugte sich nach vorne. »Das ist aber alles reichlich spekulativ«, entgegnete sie unwirsch. »Hat der Alkoholkonsum der Mutter irgendeine Relevanz für die Suche nach dem Sohn?«
Natascha zuckte zurück. Der harte Tonfall der Anwältin schüchterte sie ein. »Nicht direkt ... Aber sein allgemeines Verhalten ist ganz bestimmt davon geprägt.«
Sie sah hilfesuchend zu Winterberg, der daraufhin an ihrer Stelle weitersprach.
»René ging schon seit Monaten nicht mehr zum Fußball, weder zum Training noch zum Spiel. Der Trainer hat ihn schon seit dem Winter nicht mehr gesehen. Trotzdem hat er auch weiterhin samstags sein Elternhaus verlassen und so getan, als würde er Fußball spielen. Wir fragen uns natürlich, wo er stattdessen war. Was hat er an diesen Tagen gemacht, und warum hat er seinen Eltern nichts davon erzählt? Außerdem wurde er von seiner Exfreundin
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