Knochenfinder
aus Abgasen und stickiger Stadtluft durch die Fenster. Der Straßenlärm war allerdings jetzt schon fast unerträglich und würde sich mittags sogar noch steigern. Dr. Kraft war am Fenster stehen geblieben und wirkte ein wenig hilflos. Schmitz stellte sich zu ihr, und die beiden sprachen leise miteinander. Der Kriminaltechniker würde die nächsten Minuten mit seinen Erkenntnissen ausfüllen. Natascha war froh, dass sie ihr Brötchen noch vorher essen konnte. Nach seinen Ausführungen würde ihr sicher der Appetit vergehen, und ohne das nachgeholte Frühstück hätte sie den ganzen Tag mit knurrendem Magen herumlaufen müssen. Darauf konnte sie getrost verzichten, und Lorenz sicher auch. Natascha konnte unerträglich werden, wenn sie Hunger hatte – worunter vor allem der Kollege litt, der mit ihr das Büro teilte.
Sie überlegte gerade, ob sie sich zu Lorenz setzen und ihm über die Schulter schauen sollte, als Winterberg und Jockel zurückkamen. Winterberg nickte Schmitz zu, der daraufhin zu seinem Platz zurückging. Auch die Staatsanwältin setzte sich wieder.
»Okay, dann kommen wir zum unappetitlichen Teil«, begann der Kriminaltechniker.
Er sprach die Dinge ohne Umschweife an, wie es seine Art war. Das gefiel nicht jedem, aber Natascha war die direkte Redeweise am liebsten – auch im Umgang miteinander. So ließen sich die meisten Missverständnisse und Verstimmungen vermeiden.
»Wir wissen ja, dass eine Familie beim Geocaching ein durch Verwesung zersetztes Stück Fleisch samt Knochen gefunden hat. Etwa daumengroß. Sie haben es ganz brav bei uns abgeliefert; es lag noch in dem Behältnis – einer Frischhaltedose. Die war jedoch stark verschmutzt, wahrscheinlich wurde sie regelmäßig geöffnet und dabei auch der Inhalt auf der Erde ausgebreitet. Jedenfalls fanden sich einige Insekten und Larven darin, und die lieben Tierchen haben fröhlich bei der Zersetzung mitgeholfen.«
Er räusperte sich kurz und blickte zur Staatsanwältin. Sie jedoch reagierte nicht auf seine laxe Ausdrucksweise und machte sich fleißig Notizen.
»Seit gestern Nachmittag wissen wir definitiv, dass es sich um einen Daumen handelt. Fast zur gleichen Zeit ist die Meldung hereingekommen, dass zwei Studenten etwas Makabres gefunden haben, und zwar ebenfalls beim Geocaching. Im Gegensatz zu dem Daumen war dieser Fund noch relativ gut erhalten und auch als Finger zu erkennen. Es war ein Zeigefinger ... Zunächst haben wir den Daumen weiter untersucht. Die Details erspare ich euch. Aber die Befunde kann ich mitteilen: Es ist der Daumen eines jungen Menschen. Das Skelett ist noch nicht komplett ausgewachsen, das Knochengewebe noch nicht verhärtet. Jünger als zwanzig, würde ich sagen. Wenn die weiteren Untersuchungen abgeschlossen sind, können wir mehr über die Statur sagen.« Er räusperte sich. »Dann haben wir uns den Zeigefinger vorgenommen. Es besteht kein Zweifel daran, dass beide Amputate zur gleichen Person gehören. Wir haben also nur ein Opfer.«
Winterberg seufzte. »Das ist gut und gleichzeitig schlecht. Verdammt!«
Schmitz nickte zustimmend und zog die Nase kraus. »Der Finger war noch gut genug erhalten, um Abdrücke nehmen zu können. Der Abgleich in unseren Datenbanken war negativ. Der Finger gehört also niemandem, der bereits irgendwo registriert worden ist.« Er blickte zu Winterberg. »Ein DNA-Abgleich hilft uns dann wohl eher weiter, sofern wir Vergleichsproben haben.«
Winterberg nickte. »Wir waren am Montag bei Renés Eltern und haben den Aufsatz seiner elektrischen Zahnbürste mitgenommen. Sie ist bereits im Labor.«
»Alles klar. Ich habe aber womöglich auch eine gute Nachricht: Es gibt keinerlei Anzeichen auf einen postmortalen Eingriff. Also lebte das Opfer zur Zeit der Amputationen noch ...« Schmitz stockte kurz. »Oder der Tod trat unmittelbar zuvor ein. Das kann man nicht ganz ausschließen.«
Ein Raunen erfüllte den Raum, und Natascha schloss für einen kurzen Moment die Augen.
»Wir haben bisher nur grobe Hinweise darauf, wann der Daumen amputiert wurde«, fuhr Schmitz fort. »Wie bereits gesagt: Trotz der Vakuumverpackung gibt es Maden und Larven, die den Verwesungsprozess beschleunigt haben und uns dabei helfen werden, das Zeitfenster zu bestimmen.«
Natascha schüttelte sich. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Rücken aus: Es fühlte sich an, als kröchen unzählige dunkelblaue Kügelchen neben ihrer Wirbelsäule empor. »Ich frage mich, ob man das überhaupt überleben kann«, warf sie
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