Knochenfinder
ein. »Verblutet man denn nicht, wenn einem die Finger abgeschnitten werden?«
Schmitz warf einen Seitenblick auf Natascha und antwortete: »Du hast natürlich recht – diese Gefahr besteht. Da aber das Opfer zumindest nach der Amputation des Daumens noch eine ganze Weile gelebt hat – denn der Zeigefinger muss aufgrund seines Zustands später abgetrennt worden sein –, ist anzunehmen, dass der oder die Täter sich wahrscheinlich gut mit Wundversorgung auskennen. Die Wunde muss vernünftig behandelt werden, sonst verblutet das Opfer oder erleidet eine Wundinfektion. Und die kann am Ende genauso tödlich enden wie der Blutverlust. Wir wissen noch nicht genau, wie viel Zeit zwischen den beiden Amputationen lag, aber es könnte gut ein ganzer Tag sein.«
Schmitz hielt inne und kramte in den Blättern, die vor ihm lagen. Eine gespenstische Ruhe breitete sich im Raum aus, die nur gestört wurde von dem Lüfter des Laptops, dem gedämpften Rauschen der Straße und dem Rascheln der Zettel, die Schmitz bewegte.
»Wir haben außerdem konkrete Hinweise auf die Waffe.« Der Kriminaltechniker hatte endlich das gesuchte Papier gefunden, hob es hoch und gab anschließend mit eigenen Worten die Informationen wieder, die darauf standen. »Wir haben eine glatte Schnittstelle, deren Ränder nicht ausgefranst sind. Die Waffe ist also nicht nur sehr scharf, sondern wurde auch von kräftiger Hand geführt. Und sehr gezielt und skrupellos. Der Schnitt ging einmal glatt durch, nur am Übergang vom Gewebe zum Knochen hielt der Täter kurz inne. Wahrscheinlich, weil er an dieser Stelle mehr Kraft aufwenden musste. Und vermutlich lagen die Finger auf einer festen Unterlage. Nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen tendiere ich zu einem Jagdmesser oder etwas Ähnlichem.«
»Ein Jagdmesser?« Natascha starrte ihn an. »Wer kommt denn an so was? Nur Jäger?«
Sie musste kurz an den alten Herrn Robertson denken, neben dem sie und ihre Mutter früher in Köln gelebt hatten: Überall in der Wohnung des Nachbarn waren Hirschgeweihe aufgehängt. Als kleines Kind hatte sie Angst gehabt, dass er auch sie töten und ihren Kopf häuten könnte. Deshalb hatte sie sich immer an die Beine ihrer Mutter geklammert, wenn sie ihm im Treppenhaus begegnet waren. Später konnte sie die vielen Geweihe als Ausdruck der Leidenschaft für die Jagd akzeptieren. Es fiel ihr jedoch bis zum Ende schwer, ihm offen und ohne Vorurteile gegenüberzutreten – bis Herr Robertson starb und eine quirlige türkische Familie seine Wohnung bezog. Doch Jäger waren ihr auch heute noch suspekt.
»Im Prinzip kommt man ganz leicht an ein ordentliches Jagdmesser«, antwortete Winterberg nun anstelle des Kriminaltechnikers. »Du kannst einfach in den Fachhandel gehen und dir eines kaufen. Oder im Internet bestellen. Registriert wird da nichts.«
Jörg Lorenz blickte kurz von seinem Computer auf. »Na super, das grenzt den Kreis der Verdächtigen ja massiv ein.«
»Deshalb schauen wir uns auch zuerst einmal die Geocacher an«, erklärte Winterberg, drehte sich um und blickte auf die Karte mit den Fundmarken. »Den Besitzer dieser Dosen und die Leute, die, zumindest entsprechend den Internet-Einträgen, zuletzt am Cache waren. Und was die Suche nach unserem Vermissten anbelangt, so werde ich einen Hubschrauber – wenn es geht, sogar zwei – aus Düsseldorf anfordern. Die sollen die Fundstellen überfliegen, die Wälder von oben anschauen und Fotos machen. Mit Wärmebildkameras sollten wir dann hoffentlich schnell fündig werden – sofern sich das Opfer, also vermutlich René, in den Wäldern hier befindet.« Er breitete die Hände vor der Landkarte aus. »Leider haben wir mehr als genug Wald, den es zu überfliegen gilt. Aber ich bin da ganz optimistisch. Wir haben schon genug Vermisste mit den Hubschraubern wiedergefunden.«
Schmitz hüstelte. »Das funktioniert aber nur, wenn der Junge noch lebt. Ohne Körperwärme zeigt uns auch die beste Wärmebildkamera nichts.«
Winterberg seufzte. »Natürlich. Und für den anderen Fall fordern wir Hundertschaften aus Bochum an. Zwei sollen die Wälder rings um die Fundorte durchkämmen, und eine dritte noch die Gegend um den Wilnsdorfer Autohof. Die Befragungen dort kommen nicht voran; keiner der Angestellten scheint den Jungen gesehen zu haben. Bis die Hundertschaften stehen, werden Rotes Kreuz und THW bei der Suche helfen. Und natürlich die Feuerwehr.«
»Das stimmt aber alles wenig optimistisch«, unkte Schmitz.
Winterberg
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