Knochenfinder
es mit Kurzarbeit, dann kam unbezahlter Urlaub und am Ende die Kündigung. Betriebsbedingt, wie es so schön heißt. Und das nach zwölf Jahren in derselben Firma.« Er seufzte. »Tja, und dann sitzt man hier zu Hause rum, und die Decke fällt einem auf den Kopf. Da kann man auch an einem Donnerstag cachen gehen.«
Natascha nickte mitfühlend. »Das ist sicher eine schwierige Situation.« Die Atmosphäre im Raum hatte sich für sie verändert: ein Stück Leere wurde greifbar und legte sich über das Ehepaar.
»Tja, und wenn dann die Ehefrau das fehlende Gehalt nicht ausgleichen kann, wird es richtig eng«, fügte Monja Reitmann leise hinzu. »Schauen Sie sich um, so sieht es in einer Hartz-IV-Wohnung aus. Das Sofa ist durchgesessen, die Waschmaschine funktioniert nur mit gutem Zureden, und einen Backofen haben wir seit drei Wochen auch nicht mehr. Und dabei haben wir immer gedacht, wir hätten alles richtig gemacht. Wir haben beide gearbeitet, und das in ordentlichen Berufen: Mein Mann ist Elektriker, ich bin Landschaftsgärtnerin. Wir haben nie über unsere Verhältnisse gelebt und waren weder faul noch leichtsinnig. Und dann hat das Schicksal so grausam zugeschlagen.« Sie seufzte und griff sich an den Brustkorb. »Mit Atemnot hat es angefangen, und ich dachte zuerst, ich hätte irgendeine Allergie bekommen. Heuschnupfen vielleicht. Oder schlimmstenfalls Asthma. Und als ich dann endlich vom Arzt die Diagnose erhalten habe, hatte ich das Gefühl, die Erde hört plötzlich auf, sich zu drehen: Lungenkrebs. Tja, das kommt vom Rauchen, dachte ich mir. Aber dann ging es erst richtig los: Operationen, Bestrahlungen. Ich musste dauernd kotzen und verlor viele Haare.« Sie fuhr sich unwillkürlich über den Kopf. »Und dann wurde ich meinen Job los. So kann ich schließlich nicht arbeiten. Jetzt sitze ich hier und warte auf meine Reha, und wir beschäftigen uns hauptsächlich damit, Formulare auszufüllen, aufs Amt zu gehen und zu cachen. Aber was erzähle ich Ihnen. Sie sind ja wegen etwas anderem hier.«
Reitmann stellte sich hinter seine Frau und strich ihr sanft über den Rücken. Doch sie schien das überhaupt nicht zu bemerken.
»Und so sieht sozialer Abstieg aus«, fügte sie hinzu. »Da fragt man sich, wofür man sich all die Jahre krumm gemacht hat. Hierfür?« Sie schaute nacheinander in alle Richtungen und vollführte eine Geste, die den gesamten Raum umfasste.
Natascha sah sich ebenfalls um. Ja, auf den ersten Blick war alles relativ ordentlich gewesen. Aber wenn man genauer hinschaute, entdeckte man an allen Ecken und Enden den Verfall. Ein Bein am Esstisch war provisorisch mit zwei kleinen Kanthölzern befestigt, am Fernsehschränkchen fehlte ein Türgriff, und die Glasscheibe in der Wohnzimmertür war mit Tesafilm notdürftig geflickt.
Natascha überlegte, ob sie auf die Ausführungen der Frau in irgendeiner Form eingehen und ihr etwas Aufbauendes sagen sollte. Ja, das Leben war in der Tat ungerecht. Aber Natascha wurde gerade in ihrem Beruf ständig mit himmelschreienden Ungerechtigkeiten konfrontiert, und sie hatte lernen müssen, die Schicksale der Menschen nicht zu dicht an sich heranzulassen. Das würde sie auf Dauer fertigmachen, das wusste sie.
Lorenz reagierte gelassener als sie. »Es tut mir leid, dass Sie so viel erleiden mussten«, sagte er zu den Reitmanns und kam sogleich wieder zum eigentlichen Thema ihres Besuchs zurück. »Da ist es sicherlich schön, wenn man als Ausgleich ein interessantes Hobby hat. So wie das Geocaching.«
Reitmann lächelte erleichtert. Auch er schien über den Themenwechsel froh zu sein. »Ja, wir legen auch selbst gerne Caches aus. Da kann man sich so richtig ausleben. Intellektuell, meine ich.«
Lorenz sah ihn und seine Frau fragend an.
Monja Reitmanns Leidensmiene verschwand, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wir haben hier in der Gegend schon einen gewissen Ruf. Wenn wir einen Mystery-Cache machen, überlegen wir uns immer ein Rätsel, das nicht einfach zu lösen ist. Meist etwas Mathematisches. Es ist spannend, die Leute beim Rätseln zu beobachten – zu entdecken, wie lange jemand für die Lösung gebraucht hat, welche Irrwege er gegangen ist und ob er sich irgendwo Hilfe geholt hat.«
Lorenz’ irritierter Blick zeigte, dass er die Frau nicht ganz verstanden hatte. Er sah ein wenig hilflos aus, und seine unbequeme Haltung auf dem Kneipenstuhl ließ ihn noch kleiner wirken.
»Bei einem Mystery-Cache muss man erst ein Rätsel lösen, um die
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