Knochenfinder
Octavia.
»Angenommen, du hast recht: Wäre der Bonuscache denn dann nicht für etwas Besonderes vorgesehen?«, dachte Natascha laut nach. »Sonst wäre er ja kein Bonus.« Wieder kamen grauenhafte Bilder in ihr auf: Vor ihrem inneren Auge erblickte sie René, wie er mit einer verstümmelten Hand winkte.
Lorenz erwiderte nichts.
»Aber warum René?«, fuhr Natascha fort. »Was hat er damit zu tun?« Eine schreckliche Ahnung stieg in ihr auf. »Könnte es sein, dass der Täter ihn in eine Falle gelockt hat – dass er also gar nicht spontan abgehauen ist? Vielleicht haben sie sich verabredet, und René wurde dann überfallen.«
»Ist durchaus möglich«, erwiderte Lorenz. »Wir wissen einfach noch viel zu wenig über René. Außerdem sollten wir uns nicht allein auf den Schüler konzentrieren. Bisher vermuten wir nur, dass es seine Finger sind; und dies auch nur, weil wir von ihm keine Spur haben. Es sind noch unzählige junge Männer verschwunden, die zum Profil passen, das sich aus den gefundenen Fingern ergibt. Männlich, unter zwanzig. Wie viele Ausreißer, Entführte, Obdachlose oder Illegale haben wir allein in Deutschland, die ein Opfer des Fingerschneiders sein könnten?«
Er starrte durch die Windschutzscheibe, die immer wieder von schmutzigem Pfützenwasser bespritzt wurde. Da er das Tempo erhöht hatte, schaukelte der Jeep noch mehr als zuvor, und Natascha stieß mit der Schulter schmerzhaft gegen die Beifahrertür.
»Kollege Hanke stellt eine Datei zusammen«, berichtete Lorenz. »Er sitzt schon seit heute Morgen daran. Es gibt einfach viel zu viele potenzielle Opfer. Die müssen ja schließlich nicht von hier kommen. Wir müssen einfach auf die Ergebnisse der DNA-Analyse warten.«
Natascha schwieg. Lorenz hatte recht; sie durften sich nicht auf René fixieren. Sie starrte aus dem Fenster und ließ die Baumreihen an sich vorüberziehen. Ob dort irgendwo, inmitten der Stämme und Wurzeln, noch mehr Geocaches versteckt waren?
Plötzlich bemerkte sie, dass Winterberg scharf rechts abbog und den Octavia langsam an den Wegesrand fuhr. Lorenz parkte hinter ihm, und fast gleichzeitig sprangen sie aus den beiden Autos. Sie betraten den Parkplatz eines idyllisch gelegenen Grillplatzes. Wenige Meter weiter stand ein großer Aussichtsturm, aber auch schon vom Parkplatz aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf das Rothaargebirge im Nordosten.
Ein ganzer Trupp von Polizisten lief geschäftig umher. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand eine offene Holzhütte, die etwa fünfundzwanzig Quadratmeter groß war. Sie besaß ein riesiges Vordach, und die Fläche darunter hatte fast die gleichen Ausmaße wie die des Häuschens: Platz genug für eine Grillparty mit vielen Gästen. Ein gemauerter Grill stand etwas abseits, aber immer noch in sicherer Entfernung zu den Bäumen. Um den Boden vor herabfallender Glut zu schützen, hatte man ein etwa drei mal drei Meter großes Betonfundament gegossen. Eine geschlossene Metallplatte deckte den Grillrost ab.
Auf dem Schotterplatz davor waren mehrere Uniformierte damit beschäftigt, das Gebiet abzuriegeln. Natascha hatte gehofft, Simon hier anzutreffen, aber er war wohl immer noch mit dem Sommerfest beschäftigt. Auch Jockel war nirgends zu sehen. Einer der Kollegen schoss draußen Fotos, ein anderer saß im Streifenwagen und sprach mit jemandem über die Funkanlage. Lorenz blieb neben Winterberg stehen und hielt einen Block parat, um sich Notizen zu machen. Im Moment aber schrieb er nichts auf, sondern suchte mit den Augen den Waldrand ab. Die Stimmung auf dem Platz war geprägt von der unterschwelligen Angst, dass sich gleich etwas Schreckliches ereignen würde.
»Hier ist es!« Einer der uniformierten Kollegen, der am Rand des Schotterparkplatzes stand, wies mit dem ausgestreckten Arm auf die leichte Anhöhe vor sich, wo Himbeersträucher wuchsen. Es war André Fischer; Natascha kannte ihn von einigen Fahrten im Streifenwagen. Fischer, der ein GPS-Gerät in der Hand hielt, marschierte zielstrebig in die gezeigte Richtung.
»Los, kommt!«, rief Winterberg über den Platz.
Aber Natascha war schon losgelaufen und rannte auf die Büsche zu. Wilde Himbeeren , schoss es ihr durch den Kopf. Iss nichts aus dem Wald, mein Kind. Dat gibt Würmer im Magen. Es war die Stimme ihrer Großmutter, die in ihrem Bewusstsein widerhallte – warum auch immer.
Fischer winkte sie zu sich und zog sich ein Paar Gummihandschuhe über. Zweimal kurz hintereinander gab es ein schnalzendes
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