Knochenfinder
Minuten wieder hier sein; es lohnt sich also nicht, die kurze Unterbrechung für private Dinge zu nutzen.«
Er ließ das Buch geöffnet auf dem Pult liegen und ging mit Winterberg hinaus.
Das Lehrerzimmer war recht geräumig. In der Mitte hatte man mehrere Tische zusammengestellt, an denen etwa fünfzehn bis zwanzig Stühle standen. Auf vielen Plätzen lagen Ordner und Papierstapel, an anderen standen Kaffeetassen. Zwei junge Lehrerinnen standen vor einem großen Regal und unterhielten sich. Sie schauten auf, als der Oberstudienrat mit dem Polizisten den Raum betrat, wandten sich aber sogleich wieder ab und sprachen leise weiter.
Hier also lief ein Großteil des Schulbetriebes ab, dachte Winterberg. Informell, bequem unter vier Augen und auf dem kurzen Dienstweg. Ob auch hier über Niklas Winterberg und seine Sünden gerichtet wurde? Und über die anderen Schüler, die man ebenfalls zu diesem Drogentest bestellt hatte?
»Setzen Sie sich.« Habermann wies ihm einen Platz zu und setzte sich ihm schräg gegenüber. »Leider weiß ich auch nicht, was René in seiner Freizeit macht.« Seine Hände lagen flach auf dem Tisch, was ihn noch steifer wirken ließ.
»Wie ist er denn in der Schule?«, fragte Winterberg. »Hat er Schwierigkeiten mit Lehrern oder Schülern? Ist seine Versetzung gefährdet?«
Habermann sah ihn mit großen Augen an. »Nein! Natürlich nicht. Ich meine, René gehört nicht zu den schlechten Schülern. Allerdings auch nicht zu den guten. Er zeigt durchschnittliche Leistungen – in allen Fächern. Jedenfalls haben mir die anderen Lehrer das erzählt.«
»René wurde von seinen Eltern am Sonntag vermisst gemeldet. Aber er war schon am Freitag nicht in der Schule. Von Ihrer Schulleiterin haben wir erfahren, dass sein Vater ihn rückwirkend seit Freitag krankgemeldet hat. Dabei ist René nicht krank, sondern verschwunden. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, mir erscheint das jedenfalls höchst merkwürdig.«
Winterberg hatte die letzten Worte wie beiläufig geäußert, und Habermann schluckte den Köder.
»Ja, das ist wirklich seltsam«, stimmte er dem Polizisten zu. »Ich ... also wir, ich meine die anderen Lehrer ... wir wussten ja gar nichts. Wir haben auch erst heute Vormittag davon erfahren. Natürlich dachten wir, René sei krank. Aber jetzt sieht das natürlich ganz anders aus.« Er hatte seine Stimme erhoben, und die beiden Kolleginnen am Regal sahen verstohlen zu ihm. Sie hatten ihr Gespräch unterbrochen und taten nun beide so, als müssten sie Unterlagen sortieren.
»Wissen Sie ...« Der Lehrer beugte sich verschwörerisch nach vorn und senkte nun die Stimme. »Wirklich verwundert bin ich darüber nicht. Die Eltern des Jungen sind bisher nur wenig in Erscheinung getreten. Früher, in der Unterstufe, sind sie wohl bisweilen zu Elternabenden gekommen, wie ich gehört habe. Aber das hat dann aufgehört, und ich habe sie noch nicht ein einziges Mal persönlich zu Gesicht bekommen. Ich glaube, René hat es nicht immer leicht mit ihnen.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Winterberg wissen.
Der Lehrer ballte die rechte Hand zur Faust. Es war eine unbewusste Geste. »Ich kann es nicht genau benennen. Vielleicht ist es das Geld. Wenn wir Geld eingesammelt haben für Material oder eine Studienfahrt, dann war René eigentlich immer der Letzte, der bezahlt hat. Manchmal musste ich das Geld sogar anmahnen.« Er öffnete die Hand wieder. »Aber es ist nichts Konkretes, das ich sagen könnte. Nein ...« Jetzt sprach er wie zu sich selbst. »Es ist wirklich nur ein Gefühl.« Unvermittelt stand Habermann auf. »Ich muss jetzt aber wirklich wieder zu meiner Klasse zurück. Wenn Sie mich also entschuldigen ...«
Kaum war Winterberg aus dem Schulgebäude getreten, klingelte sein Handy. Es war Lorenz, und was er ihm mitzuteilen hatte, konnte schlimmer nicht sein. Die Geocaches mit den Fingern waren Teil einer Serie: Es gab noch zwei weitere Verstecke, in denen sich möglicherweise noch mehr Finger befanden. Oder vielleicht sogar etwas anderes.
»Oh, Scheiße«, entfuhr es ihm.
Auch Lorenz hatte es erst einmal die Sprache verschlagen.
Die Gedanken in Winterbergs Kopf rasten. Er musste dringend Streifenwagen zu diesen Verstecken schicken. Außerdem würde er nachher noch einmal bei Renés Eltern sein. Was sollte er ihnen bloß sagen, wenn noch mehr Finger auftauchten? Dass René gar nicht weggelaufen war, sondern dass er sich in den Fängen eines Irren befand, der ihn folterte und
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