Knochenfinder
Mitarbeiter der SoKo herabblickte; Karin Staudt, die auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer zusammengebrochen war; und Schmitz, der mit leichtem Ekel im Gesicht Daten über die amputierten Finger in den Raum spuckte.
»Wer noch?«, ächzte Winterberg.
Er sprach plötzlich wie ein Junge im Stimmbruch. Es klang krächzend und schwankend – wie die Stimmen der Jungs, die sich verletzten und gegenseitig filmten. Oder fotografierten. An der Stimme von Winterberg merkte Natascha, dass ihm ähnliche Gedanken wie ihr gekommen waren. Vielleicht dachte er an Fabian und Niklas, seine beiden Söhne. Dachte so wie sie.
Manuel schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer noch dabei ist. Nur die beiden aus meiner Klasse. Peer Bosch und Karim Bayram. Und René, glaube ich, auch. Aber das machen sie auch an anderen Schulen. Mein Vater hat mir davon erzählt.«
»Wer ist dein Vater?«, fragte Winterberg, der jetzt wieder mit seiner normalen Stimme redete. Er machte sich Notizen auf dem Block und tippte mit der Mine des Kugelschreibers auf das Papier.
»Er ist Lehrer an der Realschule. Die machen da ein Anti-Gewalt-Projekt gegen solche Sachen. Er hat mich gefragt, ob so was auch an meiner Schule vorkommt und ob ich mich mal umhören könnte. Das habe ich gemacht, und deshalb wusste ich auch gleich, was meine Klassenkameraden da gemacht haben. Und René fing dann neulich auch damit an; das habe ich gemerkt, weil er sonst nichts mit den beiden zu tun hatte. Doch auf einmal hingen die in den Pausen zusammen ab. Also bin ich zu ihm hin und hab ein bisschen Kontakt gesucht. Ich fand ihn eigentlich ganz nett, obwohl er nicht so beliebt ist. Aber wir haben ganz gut über Online-Spiele geredet und auch ab und zu zusammen gezockt. Na ja, und irgendwann hab ich ihn dann auf die Bilder angesprochen. Aber da hat er gleich total abgeblockt und mich beschimpft. Da wusste ich, dass er auch mitmacht, sonst hätte er ja wohl nicht so reagiert. Und dann hat er den Kontakt abgebrochen und sich am Telefon verleugnen lassen, als ich ihn anrufen wollte.« Manuel sah sie treuherzig an. »Dann habe ich es gelassen. Zum Schluss hatte ich keine Lust, für meinen Vater den Spion zu spielen, und hab ihm gesagt, dass das bei uns keiner macht. Keine Ahnung, ob er mir das abgenommen hat. Gefragt hat er jedenfalls nicht mehr.«
Natascha versuchte, die Informationen in Einklang mit ihrem bisherigen Wissen zu bringen; doch es hakte: Einige der neuen Puzzleteile passten nicht richtig ins Bild. »Moment mal. Du willst mit René Online-Spiele gemacht haben?«
Manuel nickte.
»Aber von Renés Eltern wissen wir, dass er keinen Computer hat. Das passt nicht.« Natascha sah ihn ernst an.
Doch der Junge lachte auf einmal und legte dabei den Kopf nach hinten. »Ja, das hat er mir erzählt. Und ich habe ihn ausgelacht und gesagt, dass er seine Eltern nicht so verarschen kann. Aber es hat wohl doch geklappt. Renés Eltern ließen ihn nicht an den Rechner; die haben ihn total kontrolliert. Da hat er einfach sein Sparbuch geplündert und einen Laptop gekauft. Einen richtig guten – extra zum Zocken. Und manchmal hat er sich ganz brav an den Rechner von seinem Vater gesetzt und hat da ein bisschen was für die Schule gemacht. So als Alibi, damit die Alten keinen Verdacht schöpfen. Und das hat geklappt. Ich fasse es nicht!« Er klang fast begeistert.
Winterberg wandte sich an Natascha. »Wo kann der Laptop jetzt sein?«
Natascha schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat er ihn mitgenommen. Oder hat er ein Versteck gehabt, Manuel?«
Der Junge zog eine Grimasse. »Keine Ahnung. Aber wenn wir uns getroffen haben, hatte er ihn immer dabei.«
»Was ist das für ein Fabrikat? Kannst du uns das besser beschreiben?«, fragte Winterberg, woraufhin Manuel ehrfurchtsvoll die Ausstattung von Renés Laptop beschrieb.
Dass René einen eigenen Computer hatte, von dem die Eltern nichts wussten, änderte die Situation komplett. Plötzlich war alles möglich, was sie vorher ausgeschlossen hatten. René könnte beim Geocaching gewesen sein, er könnte mit seinem Peiniger vorher via Internet Kontakt gehabt haben, um sich mit ihm zu verabreden. Er könnte auch gewaltverherrlichende Bilder und Filme besessen und mit Kumpels getauscht haben. Und es war sehr wahrscheinlich, dass er seinen Laptop mitgenommen hatte. Ob er in der Zwischenzeit noch einmal online gewesen war?
»Okay, Manuel, vielen Dank für deine Auskünfte. Es wäre gut, wenn du für uns erreichbar bleibst.«
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